Zeitzeugenbericht H. Walter

Heinz Walter ist im Mai 1933 geboren und als Kind bei seinen Eltern in Glogau, Schlesien, aufgewachsen. Die Familie musste noch vor Kriegsende die Heimat verlassen und kam schließlich nach Barkhausen, wo Verwandte, die Eigentümerfamilie des Kaiserhofes, wohnten. Dort erlebte Heinz das Kriegende mit der Besetzung durch die damaligen Gegner und die darauf folgende Besatzungszeit. Seine Erlebnisse und Eindrücke schildert er in dem nachstehenden Bericht

Erlebnisse im und um den Kaiserhof

Ereignisreiche Jahre erwarteten mich, als ich im Februar 1945, wenige Wochen vor Kriegsende, nach Barkhausen kam. Wir waren aus Schlesien geflüchtet, hatten in Thüringen in der Nähe von Erfurt einige Ruhetage verbracht und kamen dann mit der Eisenbahn, die erstaunlicherweise trotz ständiger Luftangriffe immer noch fuhr, über Nordhausen und Hannover an die Porta. Wir folgten dem Ruf meines Onkels, der schon früh erkannt hatte, dass der Krieg verloren gehen und der Ansturm der Roten Armee nicht mehr aufzuhalten sein würde. Bei unseren Verwandten, der Eigentümerfamilie des Kaiserhofes, fanden wir im Hotel Unterkunft. (Mein Onkel war der Schwiegersohn des Hoteliers Karl Knoblich). Wir konnten in zwei kleinen Räumen im obersten Geschoss wohnen. Wir waren erst wenige Tage in der Porta, da starb Onkel Ernst an den Folgen eines Schlaganfalls. Weil tagsüber ständig mit Luftangriffen der Alliierten zu rechnen war, wurde er schon um 8 Uhr morgens beerdigt. Der Todesfall war ein Schock nicht nur für meine Tante und deren Kinder, nein, auch für meine Mutter, die sich immer besonders gut mit ihrem Bruder verstanden hatte.
In den Hotelzimmern des Kaiserhofes wohnten leitende Mitarbeiter von Rüstungsbetrieben, die sich in den Stollen im Wittekinds- und im Jakobsberg eingerichtet hatten, Truppführer der Organisation Todt, die den Bau von Panzersperren und weiteren Hindernissen organisierten, sowie höhere Wehrmachtsoffiziere, die mit zusammengewürfelten, dezimierten Einheiten ein Vorrücken des hoch überlegenen Gegners unterbinden sollten. SS-Kommandos, die die Häftlinge im großen Saal des Kaiserhofs bewachten, waren in Baracken in einem Waldstück südlich des Hotels untergebracht.
Bedrückende, verwirrende Erlebnisse prasselten förmlich auf mich, den damals elfjährigen Flüchtlingsjungen ein. Über die Kettenbrücke wurden überwiegend ausländische Häftlinge zur Arbeit im Stollen auf der anderen Weserseite getrieben. SS-Bewacher überall dabei. Zur Abwehr des Feindes benötigte Waffen sollten die Häftlinge herstellen oder bei der Produktion helfen. Ich hatte keine große Ahnung, aber klar war mir auf jeden Fall, dass der Krieg mit dem Sieg der gegnerischen Truppen zu Ende gehen würde, und das recht bald. Konnten die Waffen aus den Stollen – Eingeweihte sprachen von Panzerfaust und Panzerschreck, für den Nahkampf gedacht – überhaupt noch zum Einsatz kommen? Gewundert hat mich auch, dass die jungen SS-Leute noch mit viel Spaß Motorradrennen auf dem Straßenbahngelände seitlich des Café Stapff veranstalteten und sich dabei offensichtlich völlig unbeeindruckt von der Kriegslage zeigten. Die Lage war doch gerade für sie mehr als ernst! Völlig unverständlich war mir auch das Leid der im kleinen Saal des Hotels untergebrachten Arbeiter der OT (Organisation Todt), die Sperren und Hindernisse zu bauen hatten, mit denen der Gegner aufgehalten werden sollte. Beim abendlichen Bier sangen sie, begleitet von einer Hantekante: „Lieb‘ Vaterland, magst ruhig sein, fest steht und treu die Wacht am Rhein“. Dabei waren Amis und Tommis doch schon längst auf dem Weg ins Ruhrgebiet.
An der Nordseite des Hotels, dort wo man heute zur Freilichtbühne aufsteigt, war im Zoerb‘schen Garten auf einem Podest ein Maschinengewehrstand errichtet worden, von dem aus man die ganze Front bestreichen und damit die Flucht von Häftlingen verhindern konnte. Eine militärische Anlage vor der Tür eines Saales, in dem vor dem Krieg viele Menschen aus Minden, Porta und Umgebung getanzt und Karneval gefeiert hatten.

Der Feind kommt

Die gegnerischen Truppen waren nun schon in der Nähe, die Häftlinge Anfang April abtransportiert worden, die Schanzarbeiter hatten sich nach Osten abgesetzt. Da ich in meinem Rucksack bei unserer Flucht neben zwei Unterhosen nur zwei Schlafdecken gehabt hatte, suchte ich mir im kleinen Saal einige Kleidungsstücke und ein Paar Schuhe, die die bisherigen Bewohner bei ihrem überstürzten Abzug zurückgelassen hatten.
An der Weser sollte er nun endlich aufgehalten werden, der immer näher kommende Feind. Die Kettenbrücke wurde gesprengt, Reste von Truppenteilen auf der anderen Flussseite zusammengezogen. Weil man mit größeren Kampfhandlungen rechnete, suchte die Bevölkerung Schutz. Wir, d. h. meine Tante mit ihren Kindern Elli und Ernst sowie meine Mutter und ich, suchten den hinter dem heutigen Schützenhaus liegenden, für Rüstungszwecke ausgebauten und nun für die Barkhauser Bürger freigegebenen Stollen auf. Als nach einigen Tagen die mitgebrachten Vorräte aufgebraucht waren und von draußen keine neuen Nachrichten über die Lage kamen, machten sich meine Tante und meine Mutter auf, um im Kaiserhof Verpflegung zu holen und nach dem Rechten zu sehen. Sie waren dort gerade in der Küche tätig und hatten Bratkartoffeln auf dem Feuer, als amerikanische Soldaten schwerbewaffnet hereinstürmten. Sie verlangten zunächst, versorgt zu werden, gingen in die Speisekammer und holten dort vorgefundene Eier. Meine Mutter, stets couragiert gewesen, wies sie an, sich in einer Reihe aufzustellen, damit sie nacheinander bedient werden konnten. Später haben unsere Mütter uns erzählt, dass es ein komisches Bild gewesen sei, die fremden Soldaten mit Gewehren unter dem Arm und Eiern in den Händen vor sich zu sehen. Wir Kinder hatten in der Zwischenzeit Angst um unsere Mütter, die gar nicht wiederkamen. Unbändig freuten wir uns, als sie endlich wieder auftauchten und das mit Essen und Getränken und der Nachricht, dass das Hotel nun in amerikanischer Hand sei.

Soldaten spielen mit Soldaten

Mein Cousin Ernst Behnke hatte wie viele deutsche Jungs als Spielzeug neben anderen Sachen Tonfiguren als Soldaten. Diese waren etwa 10 cm hoch und mit den Originalfarben versehen. Einige davon zeigten unsere Soldaten im Kampfeinsatz, also liegend oder stehend mit Gewehren, Handgranaten schleudernd oder an Kanonen hantierend, die meisten aber marschierend. Ich selbst hatte zuhause auch so eine Truppe, die ich aber bei unserer Flucht aus Schlesien zurücklassen musste. Bevor wir wegen befürchteter schwerer Kampfhandlungen an der Weserfront den Kaiserhof verließen, weil die alliierten Streitkräfte schon in der Nähe waren, hatte mein Cousin gerade noch so viel Zeit, sein Spielzeug in eine große Kiste zu packen und diese wegzustellen. Als die Besetzung unseres Portagebietes erfolgt war, konnten wir in das Hotel zurückkehren. Die amerikanischen Kampftruppen, die inzwischen weitergezogen waren, hatten zwischenzeitlich das ganze Haus durchsucht und dann in den Räumen eine Ruhepause eingelegt. Sie hatten die Spielkiste gesehen und sich damit abgegeben. Die deutschen Tonsoldaten wurden von ihnen in Marschformation aufgebaut. Das war nun wirklich ein friedliches Umgehen mit dem Feind! Anders erging es aber den Figuren von Hitler und Göring, die man zusätzlich zu den Soldaten zu kaufen hatte und die auch Ernst im Bestand hatte. Die beiden Naziführer, die man im Volksmund Gröfatz – größter Führer aller Zeiten, wohl nach eigener Einschätzung – und Herr Meier – nach seiner Aussage, Meier will ich heißen, wenn gegnerische Flugzeuge die Lufthoheit in Deutschland erreichen – nannte, durften die Parade der Einheit zwar abnehmen. Die Amis hatten ihnen allerdings die Köpfe abgetrennt und daneben gelegt.

Verdächtigung

Den amerikanischen Kampfeinheiten rückten englische Truppen nach, die das Hotel übernahmen, um von dort aus die Verwaltung unseres Regierungsbezirks zu reorganisieren. Das vorgefundene bzw. verbliebene Dienstpersonal wurde zunächst übernommen, die Eigentümerfamilie durfte erst einmal im Hause verbleiben. Unter den verbliebenen weiblichen Kräften für Buffet und Service befand sich eine Ungarin, die wohl voller Wut und Enttäuschung war, weil sie von Deutschen während der Kriegsjahre zwangsweise aus ihrem Heimatland hierhergebracht und zur Arbeit im Hotel gezwungen wurde. Diese junge Frau sagte den englischen Soldaten nämlich, die Besitzerfamilie habe im Hause eine Pistole versteckt. Ein Sergeant-Major (Dienstgrad wohl mit dem eines deutschen Oberfeldwebels zu vergleichen) verlangte daraufhin die sofortige Herausgabe der Waffe. Sollte das nicht bis 18 Uhr erfolgt sein, würden alle Mitglieder der Familie erschossen. Diese mit großem Ernst ausgesprochene Drohung stand damit im Raum. Die Erwachsenen konnten aber dann doch mit der Versicherung überzeugen, völlig friedlich zu sein und keinerlei Waffen zu haben. Die Behauptung wurde als unwahr und aus Rache aufgestellt angesehen. Die damals „Fremdarbeiterin“ genannte Frau schloss sich nur wenige Wochen später einem Rücktransport in ihr Heimatland an.

Briten als Besatzer

Die Briten hatten sich bald etabliert und übten durch ihre Offiziere die Gewalt über den Regierungsbezirk aus. Kommandozentrale war damit das Hotel Kaiserhof. Die deutschen Bürger sprachen aber nur von den Engländern, die nun das Sagen hatten. Im Hotel konnte ich zu den neuen Herren merkwürdiges feststellen. Einige Soldaten legten Wert darauf, Schotten zu sein und auch als solche angesprochen zu werden. Und dann deren Aussage dazu: „Wir sind doch keine Engländer“. Drei oder vier Uniformierte erwähnten, dass sie aus Irland kämen, nicht aus Nordirland. Und dann sagten sie noch dazu, und das war das erstaunlichste für mich, sie seien Freunde Deutschlands. Wer sollte das verstehen? Zu dem Punkt „Irische Soldaten des Freistaates in der Royal Army“ hat mir erst Jahrzehnte später ein Mützen und Jacken aus irischer Wolle anbietender Händler Erklärungen geliefert. Die britischen Streitkräfte hatten in den ersten Kriegsjahren große Verluste hinnehmen müssen. Um die Lücken aufzufüllen, hatte man Freiwillige auch aus Eire angeworben. Diese hätten dann auch mitgekämpft, seien aber stets als nur bedingt zuverlässig betrachtet worden. Das hatten die jungen Iren aus dem Freistaat gemerkt und dann über ihr Engagement nachgedacht. Dabei sei ihnen dann wieder eingefallen, dass es die Deutschen gewesen seien, die ihnen in ihrem Freiheitskampf gegen England (Osteraufstand 1916 in Dublin) mit Waffen und sonstiger Unterstützung geholfen haben.

Rocktragende Soldaten, die Dudelsack spielen

Ungläubiges Staunen rief bei mir hervor, dass einige Soldaten an gewissen Tagen mit Röcken zu sehen waren, die kariert waren. Sogar Offiziere traten in diesem Outfit, wie man heute sagt, auf. Ich habe selbst einen entsprechend gewandeten Colonel (vergleichbarer Dienstgrad der deutschen Wehrmacht wohl Oberst) gesehen. Ich hatte bis dahin gedacht, solche Kleidung sei reine Frauensache! Es waren die Schotten, die sich so präsentierten. Und einige von denen spielten Dudelsack und gaben in der Eingangshalle des Hotels ein Konzert. Von diesem Instrument hatte ich noch nie etwas gehört. Verwunderung kam aber erneut bei mir auf, als ein junger Soldat, geschätzt etwa 20 Jahre alt, bevor er das Mundstück des Dudelsacks in den Mund nahm, zunächst sein Gebiss entfernte und auf eine Treppenstufe legte. Als ich dann am nächsten Tag in der Schule von dem Erlebnis berichtete und auch von dem Zahnersatz sprach, sagte ein Klassenkamerad: „Ja, wisst ihr denn nicht, dass die Briten Weißbrot-und Breifresser sind und deshalb ganz früh ihre Beißerchen verlieren?“

Deutsch-englisches Kauderwelsch

Deutsche Leute, die Kontakt zu den Briten hatten, aber die Sprache nicht oder noch nicht beherrschten, gaben aber schon mal gemischte Sätze von sich. Manchmal war das auch humoristisch-ironisch gemeint. Beispiel eins: „Sleep you very well in your kleppri Bettgestell“. Beispiel zwei: „How do you do, hau mit nem Gartenschlauch, aber hau du zuerst!“

Angst der Besatzer

Braune Uniformen der Army waren jetzt überall zu sehen, das vorher gewohnte Feldgrau unserer Soldaten nur noch auf offenen Lastwagen bei Gefangenentransporten in Richtung Westen. Der Krieg war aber noch nicht zu Ende, um Berlin herum wurde immer noch gekämpft. Unter den britischen Soldaten kam Nervosität auf, das konnte man merken. Grund waren Berichte über Taten oder Absichten von sogenannten Werwölfen. So wurden Hitlerjungen bezeichnet, die von Großnazis vor deren Abtauchen aufgefordert worden waren, hinter der ja längst weiter gerollten Front unverdrossen gegen die Alliierten zu kämpfen und die eigenen Leute umzubringen und damit die zu bestrafen, die sich den Besatzungsorganen als Helfer bei der Verwaltung zur Verfügung gestellt hatten. Aktionen mit dieser Zielrichtung hatte es vereinzelt im Ruhrgebiet gegeben. Ich erinnere auch, dass ein in Aachen eingesetzter Bürgermeister ermordet worden war. Jungs im Alter ab 14 Jahren wurden deshalb immer wieder von den Besatzungssoldaten angehalten und überprüft. Sie riskierten Haft, wenn sie Messer oder Werkzeug bei sich hatten, mit dem sie Dummheiten hätten machen können. Nach eini¬gen Monaten hatte sich aber auch dieses Problem erledigt. Ich glaubte, alle Leute waren nun froh, dass der NS-Spuk ein Ende gefunden hatte.

Gefährliche Überbleibsel des Krieges

An vielen Ecken in Barkhausen lagen „Erinnerungsstücke des Krieges“, um die sich zunächst niemand kümmerte. Das größte Trümmerfeld war die gesprengte Kettenbrücke. An der Freiherr-vom-Stein-Straße in Richtung Gut Wedigenstein lagen die Reste der meines Wissens von Tieffliegern zerbombten und von den anrückenden gegnerischen Truppen dann nur noch zur Seite geräumten Panzersperre. Aber auch Waffen und Munition lagen noch überall herum. In der Nähe des späteren Sportplatzes am verbliebenen Brückenrest stand ein Flugabwehrgeschütz, das alsbald von Jugendlichen als Spielgerät genutzt wurde. Man konnte das Rohr nach beiden Seiten drehen, wie ein Karussell. Als ein Junge jedoch eines Tages mit einem Bein in das Schwungrad geriet und es bei der nötigen Operation verlor, war der Spaß vorbei. Ein Spiel mit dem Feuer im wahrsten Sinne des Wortes war es auch, wenn wir mit Hammer und Meißel oder anderem Gerät Granaten öffneten, um an die darin enthaltenen Pulverstangen zu kommen. Die konnte man dann anzünden und wie Raketen durch die Gegend sausen lassen. Dass dabei keinem meiner Freunde und Spielgefährten etwas passierte, wundert mich noch heute!

Zusammenleben mit den Besatzern

Der Seniorchef des Hotels, der schon betagte Karl Knoblich, durfte wegen seines angegriffenen Gesundheitszustandes im Haus bleiben, meine verwitwete Tante Elisabeth mit ihren Kindern nicht. Sie fanden Unterkunft in dem nicht weit entfernten Wohnhaus der Gärtnerei Hillenkötter. Meine Mutter wurde von dem für Personal zuständigen Offizier als Kraft für den Hotelbetrieb (Reinigung der Zimmer, Wäscheversorgung) eingestellt. Wir erhielten ein Zimmer im oberen, für Mitarbeiter abgeteilten Bereich. Das war meiner Tante sehr recht, denn sie hatte nun eine Vertrauensperson, die darauf achten sollte, dass „nicht alles verschwindet!“ In den beiden unteren Etagen wohnten nun englische Offiziere, die die Regie für unseren Regierungsbezirk Minden übernommen hatten (als Teil der Militärregierung für die britische Besatzungszone). Als Gäste kamen ab und an Berater von Regierungsstellen aus Großbritannien ins Hotel, für die stets Räume bereitzuhalten waren. Später wurden geeignete Deutsche, die nach Prüfung durch die Militärs nicht nur keine Nazis gewesen, sondern auch als regimekritisch anzusehen waren, mit Verwaltungsaufgaben betraut. So setzte man als Bürgermeister von Minden den Rechtsanwalt Dr. Martin Hutze ein, wohnhaft in Barkhausen, und als Regierungspräsidenten Herrn Zenz, ebenfalls Jurist. Wie ich Gesprächen der Herren mit Offizieren, die manchmal nur im Treppenhaus stattfanden und die ich belauschte, entnehmen konnte, waren unsere Landsleute aber weitgehend nur Befehlsempfänger.

Zwei Essensqualitäten

Auf dem großen Herd in der noch größeren Küche agierte der englische Koch mit seiner Mannschaft. Er konnte bei der Essenszubereitung aus dem Vollen schöpfen. Dem deutschen Personal war erlaubt worden, auf einem kleinen Teil des Herdes das einfache Mahl zu bereiten, das aufgrund der schlechten Versorgungslage möglich war (Bezug von Lebensmitteln auf Marken bei schmalsten Rationen). Aber die Soldaten waren nicht kleinlich. Wenn es, was häufig der Fall war, zum Beispiel Brotsuppe gab, zu der alle vorhandenen Reste zerkleinert und aufgekocht wurden, wanderte aus Versehen auch schon mal ein Stück britisches Weißbrot in den großen Topf. Manchmal gelang dann sogar noch die Veredelung dieser Suppe. Die deutsche Köchin bat die Soldaten, doch mal zusammen aus dem Fenster auf den Hof zu schauen. Dann griff sie in den Behälter mit Rosinen und entnahm eine Handvoll. Wir freuten uns sehr, auf unserem Teller in der Suppe unerwartet drei oder vier der süßen Minitrauben zu finden.

Mitglieder der KPD

Die Speiseräume der Army lagen im Erdgeschoss des Hotels zur Straßenseite. Bei warmem Wetter waren fast immer die Fenster geöffnet. Viele Soldaten waren Raucher und warfen die Reste ihrer Zigaretten einfach aus dem Fenster. Geduldet von der Bewachung, kamen deutsche Qualmer, die schon auf eine solche Gelegenheit gewartet hatten, angesprungen, um die Kippen aufzunehmen. Die Tabakreste wurden dann zuhause herausgekrümelt und in Zigarettenpapier zu frischen Glimmstängeln aufbereitet. Die den Schmökerern lt. Raucherkarte zustehenden Mengen waren gering bemessen, so dass dies eine Chance war, die Lungen zusätzlich, und das mit gutem amerikanischem Tabak, zu verwöhnen. Ich fand das Verhalten der „Sammler“ ganz einfach nur würdelos, zumal ich beobachten konnte, wie einige Soldaten hämisch lachten, weil sie wohl daran dachten, dass die von ihnen Beobachteten sich noch vor einiger Zeit für etwas Besseres und Angehörige einer Herrenrasse gehalten hatten. Wir Jungs bezeichneten die Stummelsucher bald nur noch als Angehörige der KPD, des Kippenpeildienstes.

Das Hotel muss herhalten

Als die Briten vom Kaiserhof aus die Regierungsgewalt übernommen hatten, wohnten die Offiziere im Hotel und gingen von dort aus ihren Aufgaben nach. Das benötigte Hilfspersonal für Dienstleistungen der Verwaltung und für die Bewachung, natürlich aus eigenen Leuten des Militärs zusammengestellt, brachte man zum großen Teil in der Nähe unter. Dafür hatten einige Bewohner Barkhausens ihre Häuser zu räumen. Die Besatzer übernahmen die Besitzungen, die Eigentümer mussten meist irgendwo anders unterkommen. Fehlte Mobiliar in den betroffenen Haushalten oder wurde das vorhandene als nicht ausreichend oder nicht gut genug angesehen, wurden die Reserven des Hotels Kaiserhof herangezogen. Vor allen Dingen Betten und Bettzeug wurden dort aus den Vorratsräumen entnommen und per Lastwagen in die beschlagnahmten Gebäude gebracht. Ob später davon auch nur ein einziges Teil zurückgegeben worden ist, weiß ich nicht.
Zu dem hier Berichteten kann man sagen, dass die Deutschen als die Verlierer des Krieges schon vieles hinzunehmen hatten, die Besatzer als die Sieger konnten so verfahren, wie sie es für richtig und angemessen hielten. So konnten sie nach Belieben die Eigentümer von Wohngebäuden aus ihren Häusern entfernen, das mussten unsere Mitbürger an der Blumen-, der Fähr-, der Park- und der Lannertstraße hinnehmen. Sie konnten ebenso über Einrichtungsgegenstände verfügen, die die Kriegsereignisse unbeschädigt überstanden hatten.

Die erste Nachkriegsweihnacht

Heiligabend 1945. Bei den deutschen Menschen Stille und Traurigkeit. Der Krieg ist verloren, überall Trümmer, viele Väter noch in Gefangenschaft, manche werden vermisst, Frauen und Kinder warten auf ein Lebenszeichen. Einige sind ausgebombt, andere haben die Heimat verloren. Dazu die schlechte Versorgungslage. Die deutschen geduldeten Mitbewohner des Kaiserhofes sitzen zusammen bei einem bescheidenen Mahl. Es ist das erste Christfest nach dem Kriege, man ist eigentlich nur erleichtert, dass keine Bomben mehr fallen und seit einigen Monaten nicht mehr geschossen wird. Wie werden die Friedensbedingungen sein, was wird die Zukunft bringen?
Über dem Gemeinschaftsraum der Deutschen liegt die Offiziersmesse der Briten. Dort wird es nach dem Abendessen auf einmal laut. Von der Ruhe des Heiligen Abends kann bald keine Rede mehr sein. Offensichtlich herrscht über uns eine Stimmung, wie zu Silvester in deutschen Familien zu Vorkriegsjahren. Wir hatten auch den Eindruck, als wenn die im Raum über uns befindlichen Möbel umgesetzt oder hin und her geschoben würden, denn die Decke schien zu beben.
Ein Soldat, der oben zu bedienen hatte und bei uns vorbeischaute, klärte uns über den Grund der launigen Stimmung auf. Bei den Briten kommt der Weihnachtsmann in der Nacht vom 24. auf den 25. Dezember mit einem Rentierschlitten angefahren, rutscht mit seinen Geschenken, die dann am 1. Weihnachtstag bereitliegen sollen, durch den Kamin der Häuser. Die Offiziere hätten mit ihren Stühlen einen Zug gebildet, den alten Mann in die Mitte genommen und dann mit ihm eine Tour durch die Messe unternommen. Eigentlich sei Sherry bei der Ankunft des Alten nur für diesen gedacht, aber in diesem Falle hatten wohl alle Beteiligten diesem Getränk kräftig zugesprochen. Der Servicesoldat erwähnte dann auch noch, dass auf die Briten zum Essen am 1. Feiertag traditionell Truthahn (Turkey) und Plumpudding warten. Da kam Neid auf!

Wie Briten sich erholen

Mehrere größere Räume statteten die Soldaten für Spiele und sportliche Betätigungen aus. Offiziere gingen an Billardtische, die niedrigeren Ränge an eine Tischtennisplatte. Einige Uniformierte aber widmeten sich einem Spiel, von dem ich noch nie gehört hatte. Auf eine an der Wand aufgehängte große Scheibe, auf der wie bei einer Torte zur Mitte schmaler werdend Abschnitte aufgezeichnet und mit Zahlen versehen waren, wurden Pfeile geworfen und die erzielten Ergebnisse auf einer Tafel notiert. Auf meine Frage nach der Bezeichnung des von den Akteuren mit großer Begeisterung ausgeübten Sports wurde mir geantwortet: „That is Darts“. Heute, wo in deutschen Sendern stundenlang Dartsturniere übertragen werden, weiß ich, dass gerade Briten diesen Sport ganz besonders lieben und dabei höchst erfolgreich sind. Gelesen habe ich gerade, dass es zwei Weltverbände gibt.

Deutsche Mitarbeiter wieder im Einsatz

Nach einiger Zeit wurde britisches Personal abgezogen und entweder an andere Standorte versetzt oder in die Heimat nach „Great Britain“ entlassen. Ein deutscher Küchenchef, den man aus Bielefeld geholt hatte, sorgte nun für das, was man zu speisen wünschte. Der Bruder meiner Tante, aus der Gefangenschaft entlassen und mit seiner Drogerie in Hannover ausgebombt, wurde Manager. Seine guten Sprachkenntnisse, die er sich bei einigen Ausbildungs- und Arbeitsjahren in den USA erworben hatte, verhalfen ihm zu dem Job bei den Briten.

Besatzer und Deutsche unter einem Dach

Über die Briten als neue Hausherren des Kaiserhofes ab Mitte 1945 und von mir beobachtete Gewohnheiten der Soldaten in ihrem Auftreten und im Umgang mit deutschen Mitbewohnern, die als Hilfskräfte geduldet waren, habe ich schon mit mehreren Beispielen berichtet. Meine mit mir im Hause wohnende Mutter hatte u. a. den Auftrag, für Sauberkeit und Ordnung in den Hotelzimmern zu sorgen, die von den Offizieren der Militärverwaltung bewohnt wurden oder für Gäste der zentralen Militärregierung der britischen Besatzungszone oder aus der Regierung in London bereitzuhalten waren.
Es gab somit Gelegenheiten für mich, wo es ging, zu gucken und dann sehr oft zu staunen. Ich konnte schon ein wenig Englisch (only a bit), was mir bei Kontakten zu den Soldaten des Wachpersonals und des Servicepersonals in der Küche und für die Betreuung der Offiziere half. Ich kann rückblickend sagen, dass mich die Soldaten irgendwie mochten. Möglicherweise hing es damit zusammen, dass ich, damals 12 Jahre alt, rotblondes Haar hatte und auch einige Sommersprossen und damit vielleicht so aussah wie ein Junge aus Birmingham oder Edinburgh, und vielleicht dachte der eine oder andere dabei an einen Sohn entsprechenden Alters zuhause.
Das Verhältnis zwischen Besatzern und Deutschen war zunächst ausgesprochen frostig. Weil ja immer mehr Gräuel der Naziherrschaft nach Befreiung der Konzentrationslager bekannt wurden. Über die von der britischen Armee vorgefundenen schrecklichen Zustände im Lager Bergen-Belsen in der Lüneburger Heide wurde immer wieder berichtet und gesprochen. Deshalb waren die Briten im Kaiserhof lange Zeit kurz angebunden. Die Offiziere hatten eigenes Personal von der Insel für persönliche Betreuung zur Verfügung, die deutschen Helfer waren eigentlich nur zur Ergänzung gedacht. So wurde ihnen immer mal wieder bedeutet, dass sie nichts zu melden, sondern lediglich den Besatzern zuzuarbeiten hätten. Auf eine Bitte meiner Mutter, das vorgefundene und nun weiter benutzte Arbeitsgerät pfleglich zu behandeln, wurde ihr kurz und knapp geantwortet: „Wir machen alles so, wie wir es für richtig halten, im Übrigen gehört alles hier im Hause dem König von England“! Nach einigen Monaten gab es aber keine spitzen oder beleidigenden Äußerungen mehr, das Verhältnis war entkrampfter und besserte sich immer mehr. Obwohl meine Englischkenntnisse anfangs noch dürftig waren, kam ich im Umgang vor allen Dingen mit den einfachen Soldaten gut zurecht.
Inzwischen 83 Jahre alt geworden, dachte ich über das damals Erlebte nach und brachte meine Erinnerungen an das Kriegsende und die Jahre danach zu Papier. Und da stellte ich mir nun auch die Frage, mit welchen Gedanken, Überlegungen und Vorstellungen die Briten seinerzeit wohl nach Deutschland gekommen waren und wie sie mit den Verlierern des Krieges umzugehen beabsichtigten. Gab es Auflagen, Vorgaben, vielleicht Befehle des Generalstabes oder sogar der Regierung in London? Mein Interesse war geweckt, ich ging den Dingen nach und konnte folgendes in Erfahrung bringen.
Schon im Jahr 1944, als wir, die Verursacher des Krieges, als Verlierer feststanden, und Briten kämpfend auf dem Weg nach Deutschland waren, hatte jeder Soldat eine schriftliche Anweisung in seinem Marschgepäck, wie man sich dem unterlegenen Feind gegenüber zu verhalten und dessen Land zu betrachten hatte. ….