Stangenpulver
Robert Kauffeld
Stangenpulver
Ich war gerade 12 Jahre alt geworden. Die ersten Panzer unserer Befreier waren durchs Dorf gedröhnt. Langsam hatten wir die Angst vor den unbekannten, zum Teil dunkelhäutigen Soldaten verloren, nachdem unsere mageren Englischkenntnisse mit der Frage „uncle, have you chocolate?“ oft Erfolg hatten. Jetzt begann für uns Jungen eine abenteuerliche, spannende, aber oft auch gefährliche Zeit.
Es gab viel zu entdecken, vieles zu finden, was keinem mehr gehörte, wie zum Beispiel das Eigentum der früheren Wehrmacht. Alles wurde geprüft und untersucht mit der Fragestellung, ob es irgendwie zu verwerten oder zumindest zum Spielen geeignet sei.
Da stand doch ein Flak-Geschütz im Kiesloch an der Alten Poststraße in der Nähe der „Grünen Brücke“ herum. Viel Munition war dabei in stabilen Holzkisten. Die wurden natürlich zur weiteren Verwendung abtransportiert.
Aber da war noch die Munition der 8,8 cm-Geschütze. Irgendwer wusste, dass in den Kartuschen Stangenpulver war, das bei entsprechender Handhabung wie eine Rakete fliegen konnte. Man musste nur die Kartusche aufmeißeln. Prompt erinnerten sich meine Freunde, dass mein Vater gelernter Schlosser war, also musste ich als sein Sohn zwangsläufig über das notwendige Können und auch das Werkzeug verfügen. So einfach wurden damals Entscheidungen getroffen. Ich fand einen kleinen Kreuzmeißel mit einer Schnittfläche von vielleicht 5 Millimetern und dazu einen dicken Hammer.
Gefährlich schien uns das Unternehmen schon zu sein, so wurde mit tiefgründiger Vernunft entschieden, dass, wenn überhaupt, nur einer draufgehen sollte. Dann saß ich ganz allein auf einer Flak-Granate und meißelte so langsam und ganz vorsichtig einen etwa 10 cm langen Schlitz in die Kartusche, genau da, wo die Granate steckt. Die konnte man dann schließlich herausziehen.
Die Freunde, die Deckung genommen hatten, konnten kommen. Dann wurde die Beute geteilt.
Das Stangenpulver zerbrachen wir zur Verwendung als Rakete in etwa 20 cm große Stücke. Wenn man solch ein Stück jetzt an einem Ende anzündet, brennt es relativ langsam ab. Wenn man aber mit dem Fuß drauf tritt und die dann noch verbleibende, inzwischen zischende Glut auf einen festen Gegenstand drückt, wird das Zischen immer stärker. – Und nun lässt man das Ding fliegen. Und wie das fliegt! Wie eine Rakete! So über das nächste Haus hinweg war durchaus normal. Auch über Grotemeiers Holzschuppen, manchmal auch hinein. Aus heutiger Sicht ein Wunder, dass der nicht in Flammen aufgegangen ist. Wenn man die Stange in ein abgesägtes Wasserleitungsrohr steckte, hatte man eine regelrechte Kanone. Allerdings gab es zwei Sorten Pulverstangen, die unterschiedlich gut als Raketen und Kanonengeschosse geeignet waren: graue und schwarze. Nur die grauen ließen sich einwandfrei zum Zischen bringen. Die schwarzen schmorten meist unverrichteter Dinge weg. So war insbesondere das graue Stangenpulver ein begehrtes Tauschobjekt.
Manche Flakmunition ist so geöffnet worden, auch an vielen anderen Stellen im Kreisgebiet. Von den Jungens der „Weserkette“, die oft im „Schlackenloch“ spielten, wo ebenfalls ein 8,8 cm-Geschütz stand und viele Granaten herumlagen, hörte ich später, dass sie des umständlichen Aufmeißelns schließlich überdrüssig wurden und die Granaten einfach durch schräges Schlagen gegen die Geschützverankerung in der Hülse lockerten, so dass man sie schließlich unter leichten Drehungen herausziehen konnte. Das dürfte noch gefährlicher gewesen sein als das Aufmeißeln.
Die aufgemeißelte Kartusche habe ich manchmal meinem Opa gebracht. Der hat sie schön aufgesägt und aus dem Messingblech z.B. Kohlenschippen gemacht. Dafür konnte man beim Bauern etwas Speck eintauschen.
So hatte jeder seine Freude an dem Nachlass der Wehrmacht. Nur über die Gefahr haben wir damals wohl doch nicht so recht nachgedacht.