Nostalgische Wanderung

Als Wolfsschluchtweg und andere Waldwege noch frei waren

Wanderfreund Fritz W. Franzmeyer greift tief in die Kiste seiner nostalgischen Erinnerungen

In den 1990er-Jahren

Herbstzeit – Zeit des Wanderns. Wenn man das anspruchsvolle Wort benutzen will, für meine Geh-und Steigübungen am Südhang des Wittekindsberges an diesem sonni­gen Sonntagmorgen. Denn schließ­lich ging ein so berühmter Wande­rer wie Johann Gottfried Seume selbst von Leipzig nach Syrakus bloß „spazieren”. Ich wähle den „Zickzackweg” hinter dem Kaiser­hof. Früher betrat man hier sofort weichen Waldboden. Heute führt zunächst eine asphaltierte Wende­schleife zum Reiterhof am ehemali­gen „großen Saal” hinauf. Wo so­eben munter ein Reitturnier vorbe­reitet wird, beobachtete ich im Kriege mit stockendem Atem die zur Zwangsarbeit im Portaberg ge­triebenen Häftlinge des Konzentra­tionslagers Neuengamme, vom Dach aus, auf das wir Kinder heim­lich geklettert waren. 

Das untere, steile Stück des Weges wirkt wie ei­ne durchfurchte Mure. Der Duft nach Steinpilzen macht mir den spähenden Blick eines Waldbesu­chers mit Korb verständlich. Wei­ter oben bemühe ich mich vergeb­lich, den Abzweig des ehemaligen Jägerweges zu finden. Irgendwo dort im Brennesselgestrüpp muss er sein. Die Interessenallianz aus Jä­gern, Waldbauern und finanzschwacher Kommune hat das An­gebot an einsamen, unbefahrbaren und deshalb schwer zu pflegenden Pfaden reduziert. Und vorbei ist die Zeit, da ungezählte Stiefel ihre an­gestammten Rechte verteidigten.

Hinter dem Denkmalvorplatz hat man die Wahl zwischen Wolfs­schluchtweg und Felsenweg unter­halb des Kammes. Ich folge dem Wegweiser „Kaiserhof 0,9 km”. Ein Scherzbold hat ihn um 90 Grad in Richtung Wolfsschlucht gedreht. Ich bin den Weg lange nicht gegan­gen, habe ihn anders in Erinne­rung, mit freierem Blick auf die „Heersumer Schicht” und die Geröllhalden am Fuße ehemali­ger Steinbrüche mit den gefährlich überhängenden Bäumen. Jetzt ist er an vielen Stellen durch mannshohe Brennnesseln und anderes Ge­sträuch gesäumt. Doch das Bild wird gewohnter, als ich mich der Höhle nähere. Deren Abgründe lehren immer wieder das Fürchten.

Der Weg verzweigt sich. Man sollte sich links halten. Dort passiert man nach wenigen Schritten einen ehe­maligen, kleinen Steinbruch, aus dessen Stirnwand Steinsäge und Moos ein antikes, fischgrätiges Mauerwerk gemacht haben.

Bald darauf erreicht man Leonhardi’s Ruh, mit speziellem Genitiv-Apostroph à la Kaiser’s Kaffee auf der Bronzetafel. Diese kündet für heutige Ohren etwas nebulös von „unseren”, nämlich des Mindener Bergvereins, „Bestrebungen”, da­mals, im Jahre 1912.

Wichtiger an dieser Felsnische mit Freischützau­ra ist das vermutlich aus dem 13. Jahrhundert stammende Steinrelief eines Mannes mit langem Haar und angewinkeltem Arm. In Hüfthöhe bricht die Figur mit einer schräg vorspringenden Kante nach unten ab, sicher zum Missvergnügen der Archäologen, doch sicher zum Vergnügen von Generationen klet­ternder Kinder, die hier festen Tritt fassen.

Unterhalb der Bruchkante noch ein paar bogenartige Relief­stränge, in denen ich mal die stili­sierten Wurzeln der Weltesche Ygdrasil sehen will. Womit wir uns unversehens in heidnischer Vor­zeit befinden. Ist dieser steinerne Mann vielleicht eine der Gestalten, nach denen der hier vorbeiführen­de, alte, aber leider ebenfalls so gut wie verschwundene „Drei-Män­ner-Weg” benannt wurde?

An der Drachenstartrampe ge­nieße ich die an diesem Tage gran­diose Fernsicht bis hin zum Teutoburger Wald. Die Topographie des Ravensberger Hügellandes und, im Vordergrund, die „Vennebecker Seenplatte” korrespondieren mit Wolkenbergen und zerfransten Schneisen blauen Himmels. Der Weg direkt oberhalb des Gasthau­ses Wittekindsburg, der sich hinter der von Friedrich Wilhelm IV. ge­pflanzten „Königslinde” und der Margarethenklus mit dem unteren Weg wieder vereinigt, ist ge­sperrt.

Doch ich steuere ohnehin rechts die Kante der Heersumer Kammschicht an. Hier präsentiert sich die ehemalige Wallburg ein­drucksvoller. Die abgedeckte wis­senschaftliche Grabungsfläche, die man bald erreicht, ist in erstaunlich gutem Konservierungszustand; keine Spur von Vandalismus. Un­ter der Plane sieht man die untere Schicht des Bruchsteinmauer­werks, dessen Kreuzform deutlich zu erkennen ist. Der Pfad führt nun hoch über dem schluchtartigen Burginneren hin. An dessen Ende biegt der Wall scharf nach links ab. Nun wird man bald an die „Ha­bichtswand” geführt.

Diese über­hängende, zwischen Eisenerz­adern wind- und wasserzerfressene Sandsteindecke bietet einen lau­schigen Ruheplatz. So war es zu­mindest einmal gedacht, zu Zeiten der Bestrebungen des Bergvereins. Auf einer meiner lithografierten Farbpostkarten von der Jahrhun­dertwende sitzt ein Mann mit Som­merhut und Spazierstock ent­spannt auf einer Bank unter der schrägen Wand. Er genießt sicht­lich den Blick durch die Bäume in den blauen Himmel. Auch heute noch führen ausgetretene Steinstu­fen zu dem Platz hinunter, doch die Reste eines Lagerfeuers und die groben Bohlenbänke lassen auf zünftigere Nutzung schließen.

Die Wahl des Rundkurses gegen den Uhrzeigersinn war in der Tat die bessere, denn auf dem Rückweg erklingt aus der Margarethenklus der Probengesang eines gemisch­ten Chores.

Also ist die alte Kapelle offen, eine seltene Gelegenheit. Ich verbanne die Scheu zu stören und trete leise ein. Gekalktes, romani­sches Gewölbe von extremer Schlichtheit zwischen schiefen Sei­tenwänden, vorn ein Holzkreuz auf steinernem Sockel,

daneben, durch ein Loch in der Decke herabhängend, ein Glockenzugseil, rechts in einer Nische der dicken Wand ein Stehpult auf Abruf. Rei­hen von Holzbänken ohne Lehne. Ich setze mich an die Rückwand, unter das einzige Bild, einen schrei­tend segnenden Christus. „Wie lieblich sind Deine Wohnungen, Herr Zebaoth. Meine Seele ver­langt nach den Vorhöfen des Herrn.” Nur schwer lösen sich die großen Worte aus dem Echo.

Der Kammweg zum Denkmal ist nun stärker begangen. Vor der en­gen Wendeltreppe zur Aussichts­plattform des Moltketurms muss ich warten.

Der abermalige Fern­blick entschädigt dafür. Wenn schon mit bloßem Auge der Biele­felder Fernsehturm zu sehen ist, müsste es zumindest durch das Glas auch der schwertstreckende Her­mann sein. Doch Arminius lässt sich nicht blicken. Auch recht, schließlich gehört er ja eigentlich gar nicht mehr dorthin.

In Denkmalnähe, ach ja, dann wieder die Welt des Lärms. Auf der Kaiserstraße dröhnen ein paar schwere Maschinen talwärts. Ich schlage den direkten Waldweg zur Nordseite des Kaiserhofs ein. Wie sagte gleich Johann Gottfried Seume? „Wer geht, sieht mehr, als wer fährt.”