Leseproben aus Aufsätzen

Fritz W. Franzmeyer

Leseproben aus Aufsätzen

über Barkhausen und die Porta

Die Landschaft um die Porta Westfalica im Spiegel des 18. und 19. Jahrhunderts –
Ein literaturgeographisches Feuilleton unter besonderer Berücksichtigung der Werke Friedrich de la Motte Fouqués. In: Walter Gödden (Hrsg.), Literatur in Westfalen – Beiträge zur Forschung, Band 7, Bielefeld 2004, S. 9-40

Reisende kommen, schauen – und gehen. Der Landmann bleibt. Er prägt das Land, und das Land prägt ihn. Er und seine Familie müssen mit den Beschränkungen ihres Umfeldes leben. Und sie müssen die großen Ereignisse erdulden, wie sie kommen. Zwei Erzählungen zeigen dieses exemplarisch für die Porta: Ida Strövers Erinnerungen an „Die goldene Pforte“ und Lulu von Strauß und Torneys „Der Hof am Brink“. Die Malerin Ida Ströver wuchs gegen Ende des 19. Jahrhunderts als Tochter des Erbpächters auf Gut Wedigenstein heran. […] Ströver schildert ihre naturverbundene Kindheit in Wald, Feld und Weserwiesen, den Einfluß von religiösem Elternhaus, bürgerlichem Verwandten- und Bekanntenbesuch, Dorfschule und spärlichen Spielkameraden auf ihr recht abgeschiedenes Leben, das sich nicht mehr so ganz in die Formen eines Höhere-Tochter-Daseins fügen will. Die verheerende Urgewalt des Wetters, die Schwierigkeiten des großbäuerlichen Wirtschaftens in einer Zeit des sozialen Umbruchs auch auf dem Lande, das traditionelle Zeremoniell dörflicher Feste, der politische Konservatismus des westfälischen Landmannes und Großbürgers, das aufgeklärt-patriarchalische Verhältnis zwischen diesem und seinem Gesinde, der Sagenschatz um Wittekind, dessen Name magisch mit dem des Gutes verwoben ist: dies sind die Themen ihres autobiographischen Erzählens. Die Landschaft war ihr nicht ästhetisches Anschauungsobjekt, sondern realistischer, doch zugleich im Ansatz autistischer Erlebnisrahmen, aus dem ihre Heimatliebe, verbunden mit der Ablehnung sowohl alles „Abstrakten“ in der Kunst als auch alles „Französischen“ in Politik und Gesellschaft entsprang. Diese Landschaft vermittelt sich dem Leser konkret nur an we¬nigen Stellen und immer ereignisgebunden, so wenn die jugendliche Ida hinter dem Gut in Begleitung eines jungen Mannes den bewaldeten Steilhang hinaufsteigt und dort, auf der „Habichtsklippe“ (heute: Habichtswand) mit ihrer herrlichen Aussicht ins Ravensberger Hügelland ein erstes – und wie es scheint einziges – zartes Liebeserlebnis hat. Oder wenn sie schildert, wie die Mutter ihrer Großtante immer dann, „wenn die Luft rein“ war, ein Bettuch aus dem Fenster hängte, damit der Verehrer ihrer Tochter Linchen, den der Vater ablehnte, es im fernen Hausberge sehen und im Galopp herübergeritten kommen möge. Nichts wird beschrieben, doch man sieht alles vor sich: das hochgelegene Gut, das freie Feld und schließlich die beidseitige Flußniederung, alles zusammen den Blick zum Gutshaus am Hang freigebend.
Wo Ströver aus persönlicher Kindheitssehnsucht verklärt, schlägt Strauß und Torney in Verarbeitung eines kollektiven Traumas hart zu. Der „Hof am Brink“ ist eine historische Erzählung, die auf „heute noch lebendiger Volksüberlieferung in den Dörfern der Weserberge beruht“. Sie spielt, was freilich nur aus den topographischen Anspielungen ersichtlich wird, im Raume Kleinenbremen, mit gelegentlichem Ausflug nach Eisbergen („Eisdorf“) hinüber. Es herrscht der Dreißigjährige Krieg. Die Schweden haben das Dorf ausgepowert. Das Elend verhärtet die Gemüter. […]
Die Erzählung hätte auch woanders spielen können. […] Und doch ist die Erzählung typisch ostwestfälisch, ja sie ist „mindisch“. Es sind die Namen und Begriffe, die sie dazu machen. „Watermanns“ oder „Nortmeiers“ gibt es um die Porta herum viele. Es tauchen Worte auf, die es nirgendwo anders gibt. Schon das Titelwort „Brink“ steht in keinem Wörterbuch des Hochdeutschen. Dem Zugereisten muß man es erklären: ein Hügel oder ein Areal am Rande der Gemarkung, oft in Hanglage. Die „Brinksitzer“ waren im Fürstbistum Minden eine ganz bestimmte Schicht von Kleinbauern. Strauß und Torneys Frauen tragen rote Röcke. Das gab es nur rechts der Weser nördlich des Wesergebirges. Die Mädchen tragen die früher ortstypischen Mützen mit schwarzen Bändern; eins von ihnen besucht seine „Meume“ und paßt auf den „Lütchen“ auf. Einer, dem es wohlergeht, hat seine Schränke „dick voll“. Wenn einer nicht „inne“ ist, dann „jachtert“ er vielleicht herum. Man schimpft über einen „alten Dölmer“ oder einen „Döskopp“ oder jemanden, der wohl „seinen Klauk verloren“ hat. Man hat „Lusten“ auf „Zwetschen“ (ohne „g“), „steckt einen Sticken (Streichholz) bei“, geht über „Pattwege“ nicht etwa „auf“, sondern „in“ den Berg, wo man sein Vieh im „Verhack“ versteckt hat, und dabei möglichst den dreckigen „Kluten“ aus dem Wege. Und wenn einer zu viel getrunken hat, ist er „duhn“, wenn er im Kriege einen Arm verloren hat, ein „Kröpel“ – dies al¬les freilich nicht im Erzählton Strauß und Torneys, sondern nur in der wörtlichen Rede ihrer Protagonisten. […]
„Das ist das Romantische, das wir suchen: die Erinnerungen der großen Zeit, auf welcher die unsere gebaut ist, als ein zweites und höherstehendes Fachwerk, abgetrennt wohl und ohne Stiege, die zu jener uns zurückführen könnte, aber auf ihr beruhend und ohne Basis ohne sie.“ So könnte es als Verständnisschlüssel über großen Teilen des Werkes von Friedrich Baron de la Motte-Fouqué stehen. […] Fouqué war in diesem Sinne ein deutscher Romantiker, dazu ein großer Phantast und Geschichtenerfinder, zuweilen auch ein hinreißender Erzähler. Das Weserbergland, speziell der Raum Bückeburg-Minden mit seinen angrenzenden Bergen, wohin es ihn in jungen Jahren verschlug, mit seinen dunklen geschichtlichen Ereignissen und seinem reichen Schatz an Sagen, Märchen und Mythen, faßte ihn derart an, daß er noch Jahrzehnte später Geschichten, Romane, Gedichte und selbst Schauspiele in ihm ansiedelte. Ein vierbändiger Zyklus ist der „Altsächsische Bildersaal“. Zwei Romane daraus spielen über weite Strecken in diesem Raum: „Die vier Brüder von der Weserburg“ und „Welleda und Ganna“. […] Außer den Romanen und (Märchen-)Erzählungen hat Fouqué sogar ein Schauspiel vor die Kulisse der Porta verlegt: „Die Runenschrift“, auch sie ein Märchenstoff aus altsächsischer Zeit, in klassischer Versform geschrieben. […] Die „Runenschrift“ ist ein liebenswürdiges, aber belangloses Stück mit einigen eher trivialen psychologisierenden und philosophischen Anklängen. Es ist hier lediglich von lokalem Interesse, dies aber ganz und gar. Keine andere Fouqué’sche Erzählhandlung hat einen so unmittelbaren Bezug zur Porta Westfalica im engeren Sinne. In einer vorangestellten Regieanweisung zum Bühnenbild wird ausdrücklich vorgeschrieben: „Die Scene ist am Ufer des Weserstroms. Man sieht in geringer Entfernung das Gebirge der Westphälischen Pforte, eine Burg auf einer naheliegenden Höhe.“ Wir befinden uns nicht bereits in der Ebene, sondern noch oberhalb des Weserdurchbruchs: „Wie freudlos selbst der schöne Weserfluß!/ Gleich einer Hexenschlange grau und schuppig/ Macht er durch jene Pforten sich davon“. […]

Die Zeitschrift „Porta Westphalica“ und ihr Redakteur David Julius Heilbronn (1799-1870). In: Mitteilungen des Mindener Geschichtsvereins, Jg. 79, 2007 (ersch.: 2010), S. 7-56

Um die Mitte des 19. Jahrhunderts erschien in Minden für einige Jahre ein Blättchen mit dem Titel „Porta-Westphalica“. Was nach harmloser Heimattümelei aussieht, zeigt im Untertitel seine Zähne: „Ein Blatt für Wahrheit, Recht und Gemeinwohl“. Man spürt sofort, dass die Verantwortlichen in den Verhältnissen, über die sie schrieben, die Wahrheit verdreht, das Recht verletzt, das Gemeinwohl missachtet fanden. Warum sie den irreführenden Haupttitel wählten, ist nicht bekannt. Der Antrag, mit dem sie um die Konzession hatten nachsuchen müssen und in dem vielleicht etwas zur Begründung zu finden gewesen wäre, liegt in den Staatsarchiven nicht mehr vor. Man kann also nur Vermutungen anstellen. So mag eine gewisse Camouflageabsicht im Spiele gewesen sein: Im Schafspelz wird der Wolf von seinen Gegnern (und Opfern) nicht so schnell erkannt. Auch war der Begriff Porta Westphalica damals, ein halbes Jahrhundert vor dem Bau des Kaiser-Wilhelm-Denkmals, noch nicht „nationalmonarchisch“ belastet; der durchaus schon grassierende Hermann- und Widukind-Kult stand nur für das gegen Frankreich gerichtete Einigungsstreben der Deutschen. So konnte sich des Begriffes ohne große Bremsreflexe die Mindener politische Linke bedienen. Vielleicht sah sie im ersten Namensbestandteil, der „Pforte“, eine Metapher für den einladenden Übertritt der Deutschen aus einer alten, abgewirtschafteten in eine neue, verheißungsvolle Zeit. Die alte Zeit, das waren der Absolutismus, der Dünkel und die Privilegien von Adel und Militär. Die neue Zeit, das waren die bürgerlichen Freiheiten, die Demokratie, die staatliche Einheit und die soziale Solidarität in der Phase frühindustrieller Verelendung. Im zweiten Namensbestandteil, „Westphalica“, fehlt diese Aufladung. Er verortete das Blatt geographisch, verwies also auf die ostwestfälische Sicht der Dinge. Er weckte zudem die Erwartung auf lokale Nachrichten und sprach so gleich doppelt den heimischen Leser an, der die Zeitschrift ja schließlich abonnieren sollte.
Auf der Zeitachse lässt sich, im Nachhinein betrachtet, die „Pforte“, auch wenn sie schon bald wieder geschlossen werden sollte, genau bestimmen. Es war die Zeit vor, während und nach der – schließlich gescheiterten – „bürgerlichen Revolution“ von 1848/49. Die Gründung der Zeitschrift war jedenfalls keine Reaktion darauf. Vielmehr hatte sie schon bestanden, als es in Wien, Berlin und Baden zu den gewaltsamen Auseinandersetzungen kam. Sie hat die Revolution nicht propagiert. Hätte sie es getan, wäre sie schon 1849 erledigt gewesen. Sie lebte aber noch ein knappes Jahr länger. Doch sie kämpfte, schließlich auf verlorenem Posten, durchaus für die geistigen Ideale, von denen die Revolution getragen wurde. […]
Zugleich erfährt man manches über die Männer, die hinter dem Projekt standen. Das waren der Verleger, spätere Redakteur und Buchhändler Ferdinand Eßmann, der erste Redakteur Dr. med. David Julius Heilbronn und der Drucker Christian Fickert, alle drei in Minden ansässig. Zu Beginn des gemeinsamen Unternehmens „Brüder im Geiste“, stehen sie für unterschiedliche biographische Verläufe, die sich unter dem Druck der Ereignisse und Verhältnisse ergaben: der erste eine Art politische „Stehauf-Figur“, der zweite ein innerer Emigrant, der dritte ein Mann mit angeschlagenem Rückgrat. Doch die Schicksale Eßmanns und Fickerts sollen hier nur am Rande interessieren. Im Mittelpunkt steht die Gestalt Heilbronns, der die Zeitschrift in ihren ersten anderthalb Jahren inhaltlich und stilistisch prägte und dessen Lebensweg vom bildungshungrigen, durch Aufklärung und Humanismus geprägten Sohn eines jüdischen Pferdehändlers über eine hochaktive Lebensphase als leiden-schaftlicher Arzt und Gesundheitsbeauftragter der Regierung hin zum politischen Redakteur und schließlich zum Rückzug ins Private manche Rätsel aufgibt, sowohl was seine Motive als auch was die Rezeption seines Wirkens durch Öffentlichkeit und Staat betrifft. […]

Das Friedhofswesen der Kapellengemeinde Barkhausen unter dem Einfluss der zweiten Stadtbefestigung und der Zugehörigkeit zu St. Martini. In: Mitteilungen des Mindener Geschichtsvereins,
Jg. 79, 2007, S. 161-17

Im alten Ortskern von Barkhausen steht eine schlichte Dorfkapelle aus Portasandstein. Fachleute schätzen ihr Alter auf 460 bis 470 Jahre. Um sie herum steht oder liegt, teils von Efeu überwuchert, etwa ein Dutzend halb verwitterter Grabsteine und -platten. Darunter die Grabplatte für einen schwedischen Obristen aus dem Dreißigjährigen Krieg; er starb im Jahre 1639. Ein Friedhof aus ganz alten Tagen? An den Steinen lässt es sich nicht ablesen. Die Obristen-Platte liegt dort noch keine 35 Jahre. Ähnlich sieht es mit dem Grabstein des Schmiedemeisters Witthaus aus. Dieser starb zwar immerhin vor über hundertfünfzig Jahren. Der Stein aber steht dort ebenfalls erst wenige Jahrzehnte. Beide, Platte und Stein, befanden sich früher auf einem anderen, unweit gelegenen Friedhof hinter der alten Schule am Kapellenweg. Nachdem dieser im Jahre 1939 eingezogen worden war und zum Verkauf als Baugrund anstand, entging die im Erdreich verborgene Grabplatte des Obristen der Bestandsaufnahme durch das „sehr tätige“ Barkhauser Mitglied des Mindener Geschichtsvereins, Bergmann. Sie wurde im Jahre 1972 bei Ausgrabungen auf dem Grundstück Kapellenweg 10 wieder zutage befördert und dann an die Kapelle umgesetzt. Ähnlich erging es den anderen Grabsteinen an der Kapelle, von denen freilich nur der kleinere Teil in Barkhausen verblieb. Der des Schmiedemeisters kam zunächst in den Schuppen seines heutigen Nachfahren – auch er wieder ein Schmiedemeister Witthaus –, und von dort erst, auf Anregung von Pastor Wilhelm Westermann, an die Kapelle. Auch die Todesdaten auf den übrigen Grabsteinen weisen nur in das 19. Jahrhundert zurück. Der kleine Friedhof an der Kapelle hat also nicht die Qualität eines Denkmals, an dem Dorfgeschichte abgelesen werden kann. Authentische Dokumente sind lediglich die Steine und Platten als solche, insoweit ihre Beschriftung – was zum Teil der Fall ist – interessante Auskünfte über im Dorf gelebtes Leben gibt. Fest steht nach Textstellen in alten Dokumenten lediglich, dass es sich bei dem Areal um die Kapelle herum überhaupt um einen frühen Gottesacker handelt.
Schon gar nicht gibt es Quellen darüber, wann die ersten Toten hier bestattet wurden. Aber auch das Alter des zweiten, am Kapellenweg gelegenen Friedhofs ist nicht bekannt. Der letztere ist im Zweifel jünger als der erstere. Das Barkhauser Kapellenbuch wird erst seit etwa 1700 geführt und enthält auch keine Informationen über die Lage der Gräber. Die Barkhauser Kapellengemeinde war bis zur Gründung der Evangelischen Kirchengemeinde Barkhausen im Jahre 1895 nicht eigenständig, sondern gehörte zur Landgemeinde von St. Martini in Minden. Auch deren im Landeskirchlichen Archiv Bielefeld lagernde Alt-Akten helfen in dieser Frage nicht weiter. Erst aus dem 19. Jahrhundert erfahren wir einiges über den kleinen Friedhof am Kapellenweg. Die Quellen sind für diese Zeit vor allem unter zwei Aspekten interessant. Sie zeigen einmal, wie der Status Mindens als preußische Festung zu einer recht engen Verflechtung der Stadt mit dem Dorfe Barkhausen im Bestattungswesen geführt hat. Und sie zeigen zum anderen, wie die bestehende kirchlich institutionelle Bindung Barkhausens an Minden, deren Rechtsqualität unscharf und von Querelen gekennzeichnet war, innerhalb des Dorfes dazu führte, dass die unter dem erheblichen demographischen Druck jener Jahre dringliche Suche nach einem neuen Gottesacker Kapriolen schlug. […]

Rätselhafte Scharten an der alten Dorfkapelle in Barkhausen und der Rathauslaube in Minden. In: Mitteilungen des Mindener Geschichtsvereins, Jg. 77, 2005 (ersch.: 2006), S. 143-150

Steinscharten! Sucht man sie unter diesem Begriff im Internet, landet man bei der Postleitzahl 94481 im Bayrischen Wald. Auch auf einem 2541 Meter hohen Gipfel am „Heilbronner Weg“ im Allgäu. Dabei braucht der Barkhauser nur zu seiner historischen Dorfkapelle zu wandern, um eindrucksvolle Steinscharten zu sehen. Sie durchfurchen dort, am eindrucksvollsten an der Südostecke, allerdings nicht „triassischen Hauptdolomit“, sondern nur den guten alten Porta-Sandstein. Und sie sind um viele Größenordnungen kleiner als die „Kleine Steinscharte“ im Allgäu. Noch bequemer haben es die Mindener. Sie laufen tagtäglich daran vorbei. Denn Steinscharten zieren das zentral gelegene Gebäude der Stadt, das Rathaus, genauer: die Pfeiler und Rundsäulen der Rathauslaube.
Zum Glück gibt es Synonyme: Schleifscharten, auch Wetz- oder Schabrillen. Da wird man denn fündiger. Man staunt, wo es sie nicht alles gibt: in Österreich, Bayern, Hessen, Niedersachsen, im Saarland, in der Pfalz, im Brandenburgischen. Vermutlich sind sie über halb Europa verstreut. Das Merkwürdige: Meist findet man sie an Kirchen, an deren Portalbegrenzungen, Vorhallen oder Kantensteinen. Gelegentlich kommen sie aber, wie man in Minden sieht, auch an alten Profanbauwerken wie Rathäusern, Stadttoren, Brücken oder Prangern vor. Ich selbst wurde auf sie an der Donau und in Brandenburg aufmerksam. Erst das schärfte meinen Blick dafür auch im heimischen Raum. Bis dahin war ich hier achtlos daran vorüber gegangen.
Nun war ich neugierig geworden. Wer schliff diese Rillen? Entstanden sie zur gleichen Zeit oder nach und nach? Vor allem: Welchem Zweck dienten sie? Waren hier bereits vorher vorhanden gewesene „Schleifsteine“ verbaut worden? Sind post-mittelalterliche „Tagger“ am Werk gewesen, die zwar keine Spraydosen, wohl aber Kratzwerkzeuge zur Verfügung hatten?
Wer sucht, der findet – sollte man meinen: allgemein in der Literatur zu Sakral- und Profanbauten oder speziell im Barkhauser Kapellenbuch resp. zur Baugeschichte des Mindener Rathauses. Ich fand aber nirgendwo eine eindeutige Erklärung, weder im Allgemeinen noch im Minden und Barkhausen betreffenden Besonderen. Wohl aber gibt es hier und da – wenn auch nicht bei uns – eine Menge Vermutungen und Spekulationen, zum Teil gestützt auf anekdotischen Augenschein. Der ehemalige Landeskonservator von Hessen, Gottfried Kiesow, zählt auf: […]

Wie die “Weserscharte” zur “Porta Westfalica” wurde – Zu Entstehung und Karriere eines topographischen Begriffs. In: Walter Gödden und Arnold Maxwill (Hrsg.), Literatur in Westfalen – Beiträge zur Forschung, Band 17, Bielefeld 2020, S. 13-27

Im Jahre 1838 drang der Hauptpfarrer der Evangelisch-reformierten Kirchengemeinde zu Rinteln, Dr. Franz Carl Theodor Piderit, bei seinen kenntnisreichen „Geschichtliche(n) Wanderungen durch das Weser-Thal“ schließlich auch bis zur „Weserscharte“ in der preußischen Provinz Westfalen vor, wobei er festhielt, dass dieser „alte Name der Porta […] wenigstens den Vorzug hätte, deutsch zu sein, wenn er nicht auch schon richtiger und bezeichnender wäre als der gewöhnliche“.
Hier findet sich offenbar jemand mit einer neudeutschen Wortbildung ab, stellt aber heraus, dass sie erstens den Sachverhalt nicht genau treffe und zweitens auch noch unnötiger- und befremdlicherweise latinisiert worden sei. „Porta“ ist das lateinische Wort für das deutsche „Pforte“, welch Letzteres aber bekanntlich ein Lehnwort ist und sich von ebendiesem „Porta“ herleitet. Die „Porta Westfalica“ ist also – jeder weiß es – die „Westfälische Pforte“. Ein originäres deutsches Wort wäre „Tor“, die Entsprechung also „Westfalentor“ oder „Tor zu Westfalen“. Von der nennenswerten Nutzung eines solchen Begriffs ist aber nichts bekannt. Vermutlich liegt es daran, dass der Assoziationssprung zwischen den beiden Begriffen „Westfälische Pforte“ und „Porta Westfalica“ wegen der ähnlichen Phonetik nur geringe Hürden zu überwinden hat. Außerdem gewährleistet die geläufige Synonymität der zwei Begriffe die Eindeutigkeit der Verständigung, sodass man mit leichterer Hand mal diesen mal jenen verwenden kann, ohne Missverständnisse in Bezug auf das in Rede stehende Objekt heraufzubeschwören.
Es fällt allerdings auf, dass Piderit es überhaupt nicht für nötig befindet, die wichtige Qualifizierung „Westfalica“ – oder, wie damals üblich: „Westphalica“ – an sein sprachlich inkriminiertes „Porta“ anzuhängen. Dies kann nur bedeuten, dass es dessen nicht bedurfte. „Porta“ hatte sich um jene Zeit bereits als geläufiges Kürzel für „Porta Westfalica“ durchgesetzt. So auch bei Freiligrath/Schücking oder Johann Georg Kohl in ihren Werken über das Wesertal. Dies spricht für die Einmaligkeit der Begriffsbildung. Sie wird auch von Kohl betont. In der Tat schlägt man die Register der Atlanten und Nachschlagewerke, die Listen der lateinischen Toponyme, umsonst auf: Man findet für den deutschsprachigen Raum zwar gelegentlich eine andere „Pforte“ – so die „Thüringer Pforte“ der Unstrut oder die „Wiener Pforte“ der Donau –, ja man spricht im übernationalen topographischen Kontext gar von „Pfortenlandschaften“. Doch es gibt keine anderen Kombinationen des Wortes „Porta“ mit geographischen Spezifikationen als die „Porta Westfalica“. Von wenigen Beispielen im europäischen Ausland wird noch zu reden sein. Wo eine solche Kombination einmal bestanden hat, stammte sie aus der Zeit der römischen Eroberungskriege in Germanien und hat sich sprachlich längst abgeschliffen und angeglichen. Das gilt namentlich für das heutige Pforzheim, das den Römern die Porta Hercyniae war, das Tor zu den Wäldern und Bergen nördlich der Donau und östlich des Rheins. Nur die Porta Nigra wird in Trier und Umgebung umgangssprachlich ebenfalls meist zur „Porta“ verkürzt, doch aus Gründen der Objektdifferenz wie des jeweiligen regional begrenzten Kontextes bestand zwischen diesen beiden Portas keinerlei Verwechslungsgefahr.
Wo sich aber eine westfälische nicht gegen eine hannoversche, eine hessische oder thüringische Pforte durchsetzen muss, da kann das spezifizierende Beiwort auch gleich weg-gelassen werden – vorausgesetzt, das leitende Substantiv bezeichnet überhaupt eine hin-reichend bekannte Örtlichkeit. Dies gilt zumal innerhalb eines regional begrenzten Zusammenhangs. In der Tat verfahren auch fast alle Autoren so, und als 1847 die Köln-Mindener Eisenbahn ihren Betrieb aufnahm, hieß der erste Bahnhof südlich Mindens von vornherein schlicht Porta und nicht Porta Westfalica. Diesen Namen bekam er erst 1984.
Nun hätte Piderit, nur um dem Deutschen den Vorzug vor dem Lateinischen zu geben, ja auch verkürzt von „Pforte“ statt von „Westfälischer Pforte“ schreiben können. Wenn er es nicht tat, so wohl deshalb, weil dieser Begriff offensichtlich nicht in Umlauf war. Das hatte seinen Grund. Das Volk besaß ja schon eine bildhaft-kraftvolle deutsche Bezeichnung, eben die „Weserscharte“. Auch dies wird in den alten Reisebeschreibungen immer wieder betont: dass es die örtliche Bevölkerung sei, die diesen Begriff verwende. Warum hätte sie zu einer zweiten, noch dazu viel weniger eindrucksvollen, greifen sollen?!
Dies spricht dafür, dass sich „Westfälische Pforte“ und „Porta Westfalica“ über die amtliche, wissenschaftliche und/oder künstlerische Befassung mit der Materie, also aus der akademisch-bildungsbürgerlichen Sphäre heraus, durchgesetzt haben. […]