KZ-Häftlinge

Robert Kauffeld

Das KZ-Lager im Kaiserhof

Eigene Beobachtungen und Erkenntnisse
Erklärungen zum Verhalten der Menschen damals 

Frühjahr 1944: Der Stollen unter dem Denkmal wird ausgebaut, der Saal des Kaiserhofes mit Stacheldraht umzäunt, Männer in Sträflingskleidung sind zu sehen, die von uniformierten Soldaten bewacht werden. Ich war schon Mitglied im Deutschen Jungvolk und erfuhr dort, arbeitsscheue Verbrecher würden hier ihre Strafe verbüßen und das Arbeiten lernen. Schnell hatte man erfahren, dass an einem farbigen Dreieck auf der Jacke zu erkennen sei, welches Verbrechen sie begangen hätten.

Selbst für die mit einem gelben Dreieck gekennzeichneten Juden oder die Bibelforscher, die ein violettes Dreieck trugen, fand man eine Begründung dafür, dass sie Verbrecher wären.

Im Laufe der folgenden Monate beobachteten wir, wie Kolonnen von Sträflingen über die Kettenbrücke zum Einsatz im Jakobsberg geführt wurden. Zunehmend stellten wir fest, dass sich ihr körperlicher Zustand verschlechterte. Misshandlungen sind nur selten beobachtet worden, die fanden, wie man später erfuhr, in den Stollen und im Kaiserhof statt. Zu Hause wurde das Thema vermieden, hatte man doch große Sorgen um den Ehemann, Sohn oder Vater, der an der Front in ständiger Lebensgefahr war. Zudem war es gefährlich, etwas zu kritisieren, was von den NAZIS zu verantworten war. Lediglich mein Großvater, so erinnere ich mich, scheute sich nicht, mir zu erklären, dass hier großes Unrecht geschähe. Und damit begab er sich in selbst in große Gefahr, von den NAZIS verfolgt zu werden.

Viele Jahre später. Der Krieg ist zu Ende. Über die Verbrechen, die man auch den Häftlingen in Porta Westfalica angetan hat, ist immer mehr bekannt geworden. Ich bin gebeten worden, einen Vortrag über die Kriegs- und Nachkriegszeit zu halten. Man hatte bisher, davon bin ich überzeugt, diese Zeit nicht, wie oft behauptet wird, verschweigen wollen, man hatte einfach „die Nase voll“, wollte in die Zukunft schauen.

Bis Frühjahr 2022 habe ich diesen Vortrag 27-mal gehalten, wobei für mich die Begegnung mit Schülerinnen und Schülern eindrucksvolle Erlebnisse waren. Und gerade die jungen Leute stellten Fragen, die zeigten, dass sie sich mit viel Interesse diesem Thema widmeten, dass sie insbesondere Erklärungen dafür suchten, warum man sich nicht wiedersetzte, sondern oftmals „Mitläufer“ war. „Konnte man bestraft werden, wenn man nicht Mitglied der NSDAP wurde, wenn man sich einfach neutral verhielt?“

Eine Frage, die oftmals gestellt wurde. „Nein, aber dass Deine Lehrerin niemals Schulleiterin werden konnte, hätte sie ertragen können, dass aber ihr Sohn, ihre Tochter nicht zur höheren Schule und zum Studium zugelassen worden wäre, hätte sie wohl – um nicht die Zukunft ihres Kindes zu verbauen – zum Nachdenken und vielleicht auch zu einem Schritt geführt, den sie selbst verabscheute“. Das haben auch 12-Jährige verstanden.

Erschreckend Fragen, die von einzelnen Erwachsenen gestellt wurden, die offenbar nicht erkennen wollten, wie schlimm die NAZI-Herrschaft war. Bezweifelt wurde, dass im Saal des Kaiserhofs bis zu 1.600 Häftlinge untergebracht waren, wenn man zugleich nicht beantworten konnte, wie groß der Saal denn gewesen sei. Dass man in drei- und sogar vierstöckigen Betten, manchmal zu zweit schlafen musste, glaubte man offenbar nicht. Tausend Häftlinge in diesem Saal, das sei eine vertretbare Zahl, wurde geäußert. Und dass die Zahl der Toten richtig sei, wurde auch bezweifelt. Wo wären denn die Beweise? Dass, wie Statistiken ausweisen, die Sterberate für 1000 Einwohner im Jahr mit 11,8 (2020) ermittelt wurde, wurde zunächst nicht angezweifelt, ließ sie aber hilflos verstummen, wenn man darauf hinweisen konnte, dass auf dem Barkhauser Friedhof immer noch 73 Gräber zu sehen wären.

Und das, obwohl im Kaiserhof nur Männer im arbeitsfähigen Alter untergebracht waren und im Laufe des Jahres vom Frühjahr 1944 bis zur Auflösung des Lagers etwa ein Jahr später erst nach einigen Monaten die volle Belegung zu verzeichnen war. Statt etwa 12 Tote bei 1000 oder umgerechnet 19 Tote bei 1600 Häftlingen waren immer noch 73 Gräber vorhanden, obwohl zahlreiche Leichen bereits in ihre Heimat überführt wurden. Außerdem hatte man festgestellt, dass manchmal zwei Leichen in einem Grab beigesetzt worden waren.

Die Barkhauser Bürger hatten die zahlreichen Beisetzungen auf dem Friedhof beobachten können, wie auch nach Kriegsende die Öffnung von Gräbern, um die sterblichen Überreste verstorbener Häftlinge in ihre Heimat – es waren insbesondere Dänen – vornehmen zu können.

Im Anschluss an meine Vorträge meldeten sich mehrmals Besucher, die selbst über eigene Erlebnisse berichten konnten. Da war ein älterer Herr aus Todtenhausen, der damals als Lehrling einer Tischlerei im Denkmalstollen beim Bau von Lüftungsanlagen eingesetzt wurde. Er war Zeuge, wie ein geschwächter Häftling „wegen seiner Faulheit“ mit einer Holzlatte so lange geschlagen wurde, bis er kein Lebenszeichen mehr von sich gab. Man habe ihn nie wieder gesehen. Mir wurden auch die später aufgezeichneten Erinnerungen eines Herforder Elektrikers übergeben, der im Stollen arbeitete und Zeuge war, als ein KZ-Aufseher einen Häftling entdeckte, der sich wohl vor der Arbeit gedrückt habe. „Schlag das Schwein tot“, habe er einem anderen Häftling befohlen – und der habe den Befehl ausgeführt.
„Schabernack“ soll es wohl gewesen sein, als Wachpersonal der in Barkhausen bekannten etwas schlicht denkenden aber recht beliebten Lotti, die Zeitungen ausgetragen hat, gezeigt haben „wie die Häftlinge so wohnen“. In den Saal geführt sah sie einen nackten erhängten Häftling, während andere ihre Mahlzeit zu sich nahmen. Lotti ist zusammengebrochen und konnte kaum getröstet werden.

An ein schlimmes Ereignis kann ich mich besonders erinnern. Es waren KZ-Häftlinge ausgebrochen, die im Wiehengebirge gesucht und auch gefunden wurden. An der Suche wurden auch Hitlerjungen beteiligt. Wir mussten gemeinsam mit Soldaten in einer Kette einen Bereich am Waldrand absichern. Nach einem meiner Vorträge meldete sich eine Frau, die unmittelbar Zeugin war, wie die aufgespürten Häftlinge „mit Forken und Äxten“ gejagt und zum Kaiserhof zurückgetrieben wurden. Der Tod am Strang wurde sofort vollzogen.

Eine besondere Rolle spielte dabei der der berüchtigte Kapo „Schorsch” Georg Knögl, der für seine Brutalität bekannt und für Hinrichtungen zuständig war. Man kannte ihn im Dorf ebenso wie den Lagerleiter Hauptsturmführer Hermann Wicklein, der später untergetaucht ist, und den SS-Rottenführer Hermann Nau. Knögl, der selbst einmal Häftling war, und Nau wurden später wegen ihrer Vergehen von den Besatzern hingerichtet.

Hat es trotz aller Gefahren Hilfen gegeben?

Wir sahen täglich, wie einige Häftlinge unter Bewachung mit einem großen Handwagen zur Bäckerei Stapff-Conradi fuhren, um Brot für die Häftlinge im Kaiserhof abzuholen. Meine Mutter half als Nachbarin stundenweise im Verkauf und konnte beobachten, dass die Wachmannschaft in einen besonderen Raum geführt wurde und Kuchen oder Ähnliches bekam. Zugleich fanden aber die Häftlinge in der Backstube, versteckt hinter der Tür, auch für sie etwas zum Essen. Meine Mutter hatte den Eindruck, dass die Wachmannschaft bewusst „ein Auge zugedrückt” hat. Tragisch, dass der Bäckermeister Karl Conradi von Polen bei einem Einbruch erschossen wurde.
Dann gab es noch die Geschichte über „den Engel von Porta”, über die der Barkhauser Chronist Fritz Franzmeyer berichtetet:

„Ein früherer KZ-Insasse, der Warschauer Verlagsgraphiker Kazimierz Kardaczewicz kam Anfang der siebziger Jahre wieder an die „schöne Porta Westfalica”, und zwar auf Einladung des damaligen Bürgermeisters Frohwitter. Er äußerte sofort den unerwarteten Wunsch, eine schwarzhaarige Frau wiederzusehen, die ihm damals, sie musste um die zwanzig gewesen sein, bei Arbeitskontakten Nahrungsmittel zugesteckt hatte, die in ihren Malertöpfen verborgen waren. Fieberhaft suchte man diese Frau, die schließlich bei Brüssel gefunden wurde. Sie war die Tochter Marianne des Hausberger Malermeisters Grasshoff. Aus dem Urlaub eilte sie herbei. Das sie nicht mehr schwarzhaarig war, soll, wie berichtet wird, Kardaszewiczs Freude in keiner Weise getrübt haben”.

Und auch Marianne Domke, die als junges Mädchen jeden Morgen die Brücke zwischen Hausberge und Barkhausen überquerte, hat gemeinsam mit ihrer Freundin den hungernden Häftlingen heimlich Brot zugesteckt. Sie hat über ihre Erlebnisse oftmals vor Schulklassen berichtet. Zu dem früheren Häftling Dr. Jørgen Kieler hat sie bis zu dessen Tod eine enge Freundschaft gepflegt.

„Resistance Fighter“ ist sein in englischer Sprache verfasstes Buch, das ins Deutsche übersetzt wurde. Auf mehr als 40 Seiten beschreibt Kieler sehr eindrucksvoll seine Leidenszeit im Kaiserhof und bei der Arbeit in den Stollen.
„Das Leben ist schön”, so der Titel das Buches, in dem der Franzose Pierre Bleton beschreibt, wie er es verstanden hat, die schlimme Zeit im KZ zu überstehen, immer noch mit der Überzeugung, irgendwann wieder an einem schönen Leben teilnehmen zu können.

Dieser Jørgen Kieler, der in Deutschland einige Semester Medizin studiert hat und später als Dänischer Widerstandskämpfer verhaftet wurde, erlebte die schlimmste Zeit seines Lebens als Häftling im Kaiserhof und bei der Arbeit in den Stollen.

Ein Däne und ein Franzose haben eindrucksvoll ihre Leidenszeit im Kaiserhof beschrieben. Sie haben unabhängig voneinander dargestellt, unter welchen schlimmen Umständen sie leben, welche Leiden sie ertragen mussten. Wie Mosaiksteine fügen sich die Bilder, die diese unterschiedlichen Menschen vermitteln, zusammen. Sie stimmen überein und lassen keine Zweifel an der Richtigkeit der Darstellung aufkommen.

Ein Zeichen der Versöhnung
Jørgen Kieler, der Dänische Widerstandskämpfer, der inzwischen ein bekannter Arzt und Krebsforscher geworden war, besuchte im Jahre 2005 in der Porta Westfalica den Ort seines Leidens. Er, der sich bis dahin geweigert hatte, wieder ein deutsches Wort zu sprechen, sprach mit der Urenkelin des früheren Besitzers des Kaiserhofes. Sein Willen zur Versöhnung bringt er mit den Worten zum Ausdruck: „Es wurde ein gutes Gespräch. Für mich ging damit am 6. Februar 2005, genau 61 Jahre nach meiner Verhaftung in Apenrade, der zweite Weltkrieg zu Ende – ohne Hass. Es war ein langer Krieg“.
Mit der Verleihung der Dr. Jørgen Kieler-Medaille möchte die KZ-Gedenk- und Dokumentationsstätte Porta Westfalica den Beitrag von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen zur Aufklärung über den Nationalsozialismus würdigen und die Bedeutung dieser Zeugenschaft unterstreichen, verbunden mit dem persönlichen Dank für dieses Engagement.

Leider erlebte Jørgen Kieler die erste Verleihung nicht mehr mit, er verstarb am 19.02.2017 im Alter von 97 Jahren in der Nähe von Kopenhagen.