Einmarsch der US-Truppen 1945, Zeitzeugenbericht
Robert Kauffeld
Von fern war Kanonendonner zu hören. Die Panzersperre hinter dem Kaiserhof war schon geschlossen worden. Jeder wusste, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis fremde Truppen, unsere damaligen Gegner, auch die Porta Westfalica erobern würden. Angst breitete sich unter der Bevölkerung aus. Man war froh, dass der Stollen unter dem Denkmal zum Schutz für die Barkhauser freigegeben worden war.

So zog ich dann gemeinsam mit meiner Mutter, vorbei an deutschen Kriegsfahrzeugen und Soldaten, zum früheren Steinbruch, in dem ich oft als Kind gespielt hatte, um hinter dicken Betonwänden vor Bomben, Granaten und Geschossen sicher zu sein. Der Betonfußboden sollte unser Lager für mehrere Nächte sein. Wir schliefen unter den großen Drehmaschinen auf einer einfachen Wolldecke und rochen später kräftig nach Öl. Natürlich erkundete ich gemeinsam mit anderen Jungen, was es da alles völlig unbeaufsichtigt zu entdecken gab. Dicke blanke Kugeln – hier waren Kugellager produziert worden – fanden unser Interesse und wurden mitgenommen.
Als wir in einer Öffnung in der Außenwand das Geschehen außerhalb beob-achteten, sahen wir, wie Amerikanische Jagdbomber im Sturzflug Bomben auf Lerbeck warfen. Dann, am April 1945, hieß es plötzlich: „Die Amerikaner sind da“, und wir stellten fest, dass, wo früher deutsche Truppen zu sehen waren, jetzt plötzlich Jeeps und andere fremdartige Fahrzeuge fuhren, besetzt mit ebenso fremdartigen Soldaten, darunter auch dunkelhäutige, „Neger“, wie wir sagten und das keinesfalls als beleidigend empfanden.

Der Krieg ging weiter, doch jetzt waren wir auf der Seite der späteren Sieger und mussten damit rechnen, von deutschen Truppen beschossen zu werden. Tatsächlich waren plötzlich Rauchwolken in Richtung Fährstraße zu sehen. Das Haus Köhring war von Granaten getroffen worden und brannte. Tischlermeister Köhring wurde von einem Geschoss an der Schulter verwundet und später „mit dem Bollerwagen“ nach Minden ins Lazarett gebracht.
Auch das Haus Franzmeyer war stark beschädigt worden. Und wir erfuhren, dass die Brücken von deutschen Truppen gesprengt worden waren.
Die Kaiserhof-Besitzerin verließ den Stollen, um zu kontrollieren, ob das Hotel heil geblieben war. Sie kam erst viel später zurück und berichtete, man hätte sie „gefangen genommen“. Sie hätte für die US-Soldaten Bratkartoffeln zubereiten müssen.
Als offenbar in der Umgebung keine Kämpfe mehr stattfanden, kehrten wir zurück ins eigene Haus. Unterwegs waren überall Kampfspuren zu sehen. In vielen Fenstern hingen weiße Laken und Tücher. Inzwischen waren Uniformen und Nazi-Embleme von den Bewohnern vernichtet worden. Opas im ersten Weltkrieg erbeutete Pistole hatte ich schon früher im Brunnen versenken müssen.
Dann die große Überraschung: Im Keller stand ein unbekanntes Fahrrad, alte Wehrmachtsklamotten lagen umher. Mein Vater war nach Hause gekommen. Er war nach schwerer Verwundung in Russland und Lazarettaufenthalt in eine Genesungskompanie nach Osnabrück verlegt worden – was wir nicht wussten. Dort hatte er sich versteckt und war mit dem von einem Osnabrücker Kameraden geliehenes Fahrrad hinter der Front her gefahren, hatte so seinen Heimatort erreicht und wollte nur noch Zivilist sein. Aber das waren er und weitere Barkhauser, die sich abgesetzt hatten, in den Augen der Besatzer noch nicht. Und so wurden Fritz Bollmann, Heinrich Böckstiegel, Karl Dallmeier, Robert Kauffeld sen., Karl Nehrmann, Adolf Pelka und Günter Schwemling plötzlich verhaftet. Sie waren offenbar denunziert worden.

Die früheren Soldaten wurden in das berüchtigte Lager Rheinberg gebracht. Dort wurden 140.000 Kriegsgefangene auf einem freien Feld hinter Stacheldraht gefangen gehalten, hatten keine Unterkunft, wurden äußerst schlecht verpflegt. Tausende starben im Lager Rheinberg und den anderen Rheinwiesenlagern, ohne registriert worden zu sein. Ausführliche Berichte von Betroffenen im Internet und auch das Buch „Der geplante Tod” von James Bacque zeugen von den unmenschlichen Bedingungen, und das wird auch von neutralen Geschichtsschreibern bestätigt.
Nach einigen Monaten kamen mein Vater und die anderen Barkhauser zurück. Vater war unterernährt, doch einigermaßen gesund, hatte den damals bekannten D2-Schein bekommen, ohne den man keine Lebensmittelmarken bekam, sozusagen nicht existierte
Ich war 12 Jahre alt. Gemeinsam mit meinen Freunden begannen abenteuerliche Erkundungs- und Beutezüge, zunächst zur gesprengten „Grünen Brücke“. In unmittelbarer Nähe, südlich dieser früheren Eisenbahnbrücke, die nach der Sprengung schräg in der Weser lag, war deutlich zu erkennen, dass hier mit Sturmbooten übergesetzt worden war.


Viel zurückgelassenes Material lag umher, wurde von uns auf Brauchbarkeit überprüft. Besonders begehrt waren Rettungswesten, die später beim Baden in der Weser Verwendung fanden.


Päckchen „Breakfast“ lagen umher, denen oftmals nur Zigaretten entnommen waren. Kekse, Schokolade und manch anderes waren manchmal noch vorhanden und wurden von uns erbeutet, und noch etwas, das wir bisher nicht kannten, Chewing-Gum, also Kaugummi.

Doch auch Munition für Granatwerfer, Kabel, Gewehrmunition und vieles mehr waren zurückgelassen worden. Handgranaten konnte man durchaus gebrauchen. Die wurden später von früheren deutschen Soldaten – mein Vater war darunter – zum „Fischen“ in der Weser sehr erfolgreich verwendet.

Von der deutschen Wehrmacht waren Hafthohlladungen zurückgelassen worden. Das sind Panzernahkampfmittel, die wie Kegel aussehen und mit drei starken Magneten bestückt sind, mit denen sie am feindlichen Panzer zur Sprengung befestigt werden sollten. Es waren sehr starke Magneten, hatten wir schnell herausgefunden, und die wurden dann mit Gewalt abgebrochen. „Kann nichts passieren”, waren wir überzeugt, denn es fehlte ja der Zünder.

Etwa einen Kilometer weseraufwärts, vorbei an der Stelle, wo früher eine deutsche Me 109 unmittelbar am Ufer abgestürzt war, lag ein deutsches Bockschiff mit Flugzeugteilen und Material zum Flugzeugbau. Wie zahlreiche Barkhauser Bürger, so habe ich später Bleche aus Duraluminium, Winkeleisen, Profilstangen, Muttern, Schrauben, Nieten, Rohre zur eigenen Verwendung abtransportiert. Von Flugzeugrädern hat mein Opa einen zweiräderigen Handwagen gebaut.
Lange dauerte es nicht, bis die Beutestücke das Ortsbild von Barkhausen prägten, denn besonders mit dem Wellblech wurden defekte Dächer, Karnickelställe, Hühnerställe usw. abgedeckt. Friedrich Höltkemeier baute sich sogar aus den Blechplatten ein Paddelboot.
Die hier gelagerten elektrischen Glühbirnen hatten kein Gewinde sondern seitlich Stifte. Kein Problem. Die Sockel der im Haushalt benutzten Glühbirnen, die kaputt waren, passten genau darauf und wurden verlötet, nachdem eine Drahtverbindung hergestellt wurde. Beim Hochwasser im Februar 1946 ist das Bockschiff abgetrieben und lag dann auf Neeser Landseite quer vor der Grünen Brücke.



Neben der gesprengten Kettenbrücke, etwa in Verlängerung der Fährstraße, hatten die US-Soldaten schnell eine Pontonbrücke gebaut, später auch für nur wenige Tage eine Brücke für den Schwerlastverkehr. Die kleinere Brücke durfte erst viel später auch von der deutschen Bevölkerung benutzt werden.

So führten unsere abenteuerlicher Erkundungen zur gesprengten Grünen Brücke, wo wir das gefährliche Klettern über die in der Weser liegenden verformten Brückenteile wagten, um auch auf dem rechten Weserufer unsere Erkundungen fortsetzen zu können.
Bald wurden erste Kontakte zu den Besatzern aufgenommen. Tausch HJ-Fahrten-messer gegen Zigaretten war üblich. Die Erfahrung zeigte, dass dunkelhäutige Soldaten oftmals besonders freundlich zu Kindern waren und „Chocolate“ spendeten.
Es dauerte nur wenige Tage, bis auf großen Plakaten Anweisungen der Besatzungsmacht das Leben der Bevölkerung regeln sollten. Ab Sonnenuntergang bestand Ausgangssperre. Plünderungen sollten strengstens geahndet werden. Die männlichen Einwohner wurden angewiesen, Offiziere der Armee in passender Weise zu grüßen, „auch dass man ihnen beim Begegnen auf dem Bürgersteig in anständiger Weise Platz macht“. Alles sollte wieder seine Ordnung haben, doch die Beutezüge gingen nach eigenen Gesetzen weiter
Vorbei an der noch geschlossenen Panzersperre am Kaiserhof ging es zum abgeschossenen US-Panzer in der Nähe der Försterwiese am Königsweg. Mit geeignetem Werkzeug konnte man auch wohl einiges abbauen, das, wenn es auch nicht unbedingt zu gebrauchen war, uns Jungen aber sehr interessant und allemal als Tauschobjekt, also zum „Kungeln“, geeignet erschien.


Was könnte man gebrauchen? Dieser Panzer fuhr noch mit Benzin. Also: Schlauch und Kanister holen. Ansaugen – Ich weiß jetzt, wie Benzin schmeckt. Ich habe heute noch den von mir abgebauten Prismen-Einsatz aus dem Sehschlitz des Fahrers. Wie wertvoll. Jetzt kann ich um die Ecke sehen, ohne dass mich jemand sehen kann. Allerdings warte ich immer noch auf die Stunde der Bewährung dieses optischen Spezialgerätes.
Weitere Beutezüge führten zum allseits bekannten „Pulverschuppen“ in Minden an der Salierstraße, wo ein Fass mit seewasserfester brauner Farbe erbeutet und unter Freunden aufgeteilt wurde. „Gasplane“, die den Soldaten beim Einsatz von chemischen Kampfstoffen als Schutz vor ätzenden Flüssigkeiten dienen sollten, fanden wir. Eine Seite orange, die andere weiß, so hatte man die Wahl, wenn man sie als Tischdecke verwenden wollte. Besonders begehrt waren Dreieckszeltbahnen, mit denen man – vier Stück waren erforderlich – ein Zelt errichten konnte. Sie fanden noch 1947 Verwendung, als Pastor Westermann für die von ihm betreute Jugendgruppe Ferien auf der Nordseeinsel Wangerooge organisierte.

Im Wasserübungsplatz an der Weser in Minden fanden sechs Paar Langlaufski mich als neuen Besitzer, davon dienten fünf als Tauschobjekt. Ein großer Schraubstock wurde abgebaut und war nur schwer zu transportieren. Das alles nannte man Organisieren, und davon waren nur der Nachlass der früheren Wehrmacht und manchmal auch die Besatzer betroffen.
Über die Grüne Brücke erreichten wir auch den „Blauen See“ in Lerbeck. Hier, auf dem früheren Übungsgelände der Pioniere, war nur militärisches Material zu finden. Aber Sprengladungen zu zünden, machte uns doch auch Spaß, wie auch Paddeln in Sturmbooten auf dem See. Weniger lustig war es, als der Knallsatz einer Übungshandgranate in meiner Hand explodierte und eine große klaffende Wunde entstand. Ich hatte nicht beachtet, dass ich nicht den mit Verzögerung versehenen Blaukopfzünder einer Eierhandgranate eingeschraubt hatte, sondern einen anderen, und der zündete sofort. Aber ein Verbandspäckchen hatte man ja immer dabei. „Tante Kauffeld, du sollst sofort nach Hause kommen, Roberts Finger ist halb ab“, die Nachricht meines Freundes Kalle an meine Mutter. Ob sie wirklich geglaubt hat, dass ich in einen Glassplitter gefallen war?
Man lebte gefährlich. An zwei Stellen in Barkhausen standen 8,8cm-Geschütze (Flak) mit viel Munition. In den Kartuschen befand sich Stangenpulver, das – jedenfalls wenn es grau und nicht schwarz war – nach dem Anzünden bei richtiger Behandlung raketenähnlich hoch in die Luft fliegen konnte. Mit Hammer und Meißel habe ich mehrere Kartuschen aufgemeißelt, bis man die Granaten entfernen konnte. So stand das begehrte Stangenpulver als „Spiel“- oder begehrtes Tauschobjekt zur Verfügung.
Das Leben ging weiter. Eine schwere Zeit folgte. Tauschen war damals die einzige wichtige Handelsart, die dem Überleben ebenso diente wie Schwarzschlachten und Schnaps-brennen. Und auch der Schwarzmarkt hatte eine besondere Bedeutung. Viele Menschen mussten hungern, und doch versuchte man, den Humor nicht zu verlieren. So erzählte man in Anspielung auf leere Geschäfte: Ein Mann kommt in ein Konsum-Geschäft, sieht sich um und fragt einen Verkäufer: „Sagen Sie, haben Sie keine Brote?“ Antwort: „Keine Brote gibt’s dort drüben, hier gibt’s kein Gemüse.“ Noch Heiligabend 1947 richtete der Amerikanische General Lucius D. Clay als Militärgouverneur eine Weihnachtbotschaft an alle Deutschen, die mit den Worte begann: „Die gegenwärtigen Umstände erlauben es mir nicht, Ihnen frohe Weihnachten zu wünschen“.