Ida Ströver

Fritz W. Franzmeyer

Die Malerin und Schriftstellerin Ida Caroline Ströver

(1872-1955)

Die Porta Westfalica ist oft gemalt worden. Doch die Künstler kamen meist von auswärts. Das wohl frühest bekannte Künstlertalent, das der Ort Barkhausen a. d. Porta selber hervorgebracht hat, ist Ida Caroline Ströver. 

Sie erlangte als Malerin, Schriftstellerin und kantige Persönlichkeit so viel Berühmtheit, dass sich Mitte der 1960er-Jahre mit Barbara Korn eine Biographin fand, die eine Monographie über sie schrieb. Korn verdanken wir viele Einzelheiten aus Ida Strövers gesamter Lebensspanne. 

In ihrem frühen autobiographischen Roman “Die goldene Pforte” verrät diese aber auch selber viel über sich und ihre Kindheit in Barkhausen, genauer: auf Gut Wedigenstein. Dort wuchs sie auf, als Nachfahrin von Heinrich Ludwig Schumacher, dem ersten privaten Besitzers des Gutes.

Barkhausen war für Klein-Ida immer nur das “entfernte Dorf”, denn das Gut war außerhalb gelegen, weit im Westen, am Südhang des Wittekindsberges. Zwischen Gut und Dorf lag auf halbem Wege nur das Försterhaus. Das ist längst abgerissen, doch damals herrschte dort reges Leben, denn das Försterehepaar hatte Kinder, und gern hielt Ida sich bei ihnen zum Spielen auf. Natürlich musste sie in Barkhausen zur Schule gehen. Dort unterrichteten um jene Zeit die Lehrer August Sassenberg (1868-1884), Hermann Plaßmann (1871-1881) und Eduard Schrader (1881-1905), wobei sie vor allem mit den zwei letzteren zu tun hatte. Da Ida wohl wenig Kontakt zu anderen Barkhauser Schulmädchen hatte, wird sie sich ein wenig isoliert gefühlt und in dieser Isolation von den Schuljungen gehänselt worden sein. Dazu wird beigetragen haben, dass sie keine Schönheit war – was ihr der eigene Vater später mit Sätzen wie ” ‘ne Griechin wirst du wohl nie” bescheinigte, womit er sie vielleicht auf die Ehelosigkeit hatte einstimmen wollen. Bestärkt wurde dies Gefühl durch die eigene Erfahrung des Zurückgewiesenwerdens durch einen jungen Mann, den sie gemocht hatte.
Jedenfalls war Ida früh gezwungen, sich bei den Mitschülern durchzusetzen. Sie schlug zu, wenn es sein musste, und härtete sich mit ihren Brüdern an Fluss und Berg ab. An felsigen Orten wie der “Habichtsklippe” hoch über dem Gutswald, die in ihrem Roman auftaucht, wird sie sich die respektheischende Verbindung aus Mut und Kraft erworben haben. Das ging so weit, dass sie ihre Brüder um ihr männliches Geschlecht beneidete. Als „Wildfang“ sah sie sich in diesen Jahren. So lernte sie frühzeitig, den Männern später Paroli zu bieten, vor vollen Häusern kämpferische Vorträge für die Gleichstellung der Frau in der Kunst zu halten, Zigarren und langstielige Zigaretten zu rauchen, geschamige Mäzenatinnen mit Aktzeichnungen zu verwirren, sich in München als “registrierte Radfahrerin” ins Verkehrsgewühl zu wagen und sich der Schwerstarbeit der Freskenmalerei zuzuwenden, die gewöhnlich nur von Männern “gewuppt” wurde.
Nicht nur zum Schul-, auch zum Kirchgang verließ sie das Gut. Dazu musste man die Weser überqueren, allerdings nicht mehr zeitraubend mit der Fähre, sondern über die seit 1866 auch für den privaten Personenverkehr freigegebene Kettenbrücke der Eisenhütte, denn das Gut war damals, als Barkhausen noch keine eigenständige Kirchengemeinde hatte, in Hausberge eingepfarrt. Von dort stammte auch ihr Großvater Boedecker, und dort hatte Urgroßvater Schumacher seinen Gedenkstein für seine verstorbene Frau aufstellen lassen, von dem aus alljährlich Schulbücher an die Kin­der armer Eltern verteilt wurden. Darüber hinaus wird Ida ihren Vater Bernhard Ströver zuweilen bei seinen geschäftlichen Fahrten zur Aulhauser Mühle begleitet haben, im Sommer mit dem Pferdewagen, in schneereichen Wintern auf dem Schlitten. Oder sie inspizierte mit ihm die Felder und Wiesen, „half“ draußen bei der Ernte und machte mit den Eltern Sonntagsausflüge, entweder zu “Horstmanns Gartenlokal” – dem ehemaligen “Chausseehaus Hoffmann” – oder gar zum Wilden Schmied. 

Von all dem ist im Roman die Rede, vieles davon in begleitenden Zeichnungen veranschaulicht. Zum Friedhof dagegen musste man nicht lange laufen oder extra anspannen lassen, er lag direkt hinter dem Gut am Waldesrand und war nur für die Familie angelegt.

Idas Kindheit war also vor allem durch das Leben auf dem Gut geprägt. Fromm und der Sitte gemäß waren dort die Bräuche, an die sie, deren Talent ja darauf beruhte, dass sie Bilder in ihrem Kopf bewahrte, sich später lebhaft erinnern wird: wie zu Weihnachten in fürsorglich-patriarchalischer Weise die Hofarbeiter mit ihren scheuen Kindern auf dem Gut empfangen und beschenkt wurden; oder wie das Gut zur Erntezeit im Mittelpunkt des schmuck- und trachtenreichen Erntefestes stand. Dabei wurde sich Ida ihrer privilegierten Stellung sehr bewusst.
Damit war es vorbei, als Ida Ströver “flügge” wurde. Nach dem frühen Tode ihrer taubstummen Mutter Caroline wurde sie in die Obhut einer Tante in Hannover gegeben, wo sie zu einer vorbildlichen Hausfrau erzogen werden sollte. Es waren Jahre, die sie im Roman als “Martyrium eines gefangenen Vogels” bezeichnet. Doch den musischen Sinn, der sich während weiterer Schuljahre in Kassel bei der Begegnung mit Rembrandt-Bildern und etwas später, nach dem Tode ihres Vaters, im Hause des Göttinger Sanitätsrates Rath Bahn brach, konnten auch handfeste Ausbildungstätigkeiten auf einer Braunschweiger Domäne nicht mehr unterdrücken. Nach Hause kehrte sie, außer besuchsweise, nie mehr zurück, jedenfalls nicht zu Lebzeiten. Denn ihr Vater hatte das Gut 1887 – Ida war 15 Jahre alt – aus finanziellen Gründen verkaufen müssen. Die Ausbildung seiner Kinder war ihm wichtiger als der eigene Besitz.
So konnte sich Ida Ströver 1893 zu einem Kunststudium in München entschließen. Dort lebte sie bis 1906, zog dann nach Bremen, wo sie trotz des ihrem Naturell eher abholden, nüchternen Kaufmannsklimas etwa 25 Jahre verbrachte, bis sie “lieber in Berlin hungern” wollte, der Stadt, deren Kunstsinn sie in der Zwischenzeit schon immer mal ein paar Wochen oder Monate genossen hatte. Bereits 1911 hatte sie für eine Berliner Ausstellung über “die Frau in Haus und Beruf” in härtester, bis zur körperlichen Erschöpfung reichender Arbeit einen 22 m langen Kolossalfries mit dem Thema “Der Weg des Weibes” gemalt. Hier fand sie bald Zugang zum berühmten Lyceumsclub, einer Frauenvereinigung, deren etwa 1.000 Mitglieder vornehmlich aus höheren Gesellschaftsschichten kamen und für mehr Frauenrechte warben.
Physische Anstrengungen dieser Art zehrten an ihrer Gesundheit. Die Disposition hatte sie bereits mitgebracht. Nach frühem Cholera-Anfall und einer Typhus-Infektion während einer Studienreise nach Holland brach 1912, mitten in der Arbeit, ihre unheilbare Schilddrüsenkrankheit aus, die ihr dann zwei hochriskante Basedow-Operationen eintrug. Doch über alles half ihr wohl ein tiefer, von der Mutter übernommener Glaube hinweg: Während der bei vollem Bewusstsein durchgeführten ersten Operation soll sie den 23. Psalm gesprochen haben.

Auch das Maltalent hatte Ida Ströver offenbar von der Mutter geerbt. Der berühmte Monumentalmaler Wilhelm von Kaulbach war mehrere Jahre lang deren Lehrer gewesen. Auch Idas spätere Ausbilder und Förderer hatten Rang und Namen. Fritz von Uhde beriet sie künstlerisch und bescheinigte ihr ein großes graphisches Talent. In der Tat liegt im Zeichnen vielleicht ihre größte Stärke. Zu ihren Kolleginnen und Freundinnen zählten Käthe Kollwitz, später die Malerin Schröder-Krüger, von der ein Ölporträt der Ströver aus dem Jahre 1951 erhalten ist. Ströver oblag die künstlerische Gestaltung der Totenfeier für Arnold Böcklin, und sie nahm mit Käthe Kollwitz an der Totenfeier für Lovis Corinth teil. Ihre Vorbilder waren keine Geringeren als Rembrandt, Giotto und – vor allem – Albrecht Dürer. Zweifellos stand sie aber auch unter dem Einfluss des Jugendstils, wie etwa der 1915 erschienene “Heliand” beweist. Viele Zeichnungen daraus haben aber auch einen stark expressiven Duktus. Dagegen lehnte sie die Impressionisten und “Abstracten” zeitlebens ab. Gleichwohl hingen, etwa bei den großen internationalen Ausstellungen der Bremer Kunsthalle, ihre Bilder neben denen von Picasso, Sisley und Renoir. Werke von ihr wurden von großen Kunsthäusern in München, Bremen, Hamburg, Münster und Berlin gekauft. Ein großes Gemälde, das der Norddeutsche Lloyd erwarb, ging mit der “Bremen” unter. Dasselbe Schicksal traf einen großen Teil ihres Gesamtwerkes; er wurde durch die Bomben aus 24 Luftangriffen zerstört, die Ida Ströver in Berlin persönlich überstand. Erhalten geblieben ist eine Vielzahl “mobiler“ Werke, die 1952 in Bad Oeynhausen und 1954 im Mindener Stadttheater zu sehen waren.
Strövers ureigener künstlerischer Ausdruck war die “bedeutsame Gebärde”. Das kommt sogar in ihren Kleinformaten zum Ausdruck, etwa der “Erweckung des Lazarus” oder der “Stillung des Meeres” aus dem “Heliand”. 

Diese Formensprache hatte sie bereits aus dem Elternhaus mitgebracht: im Umgang mit ihrer taubstummen Mutter, aus der theatralisch bebilderten Familienbibel, aus der Konfrontation mit den großen heimatlichen Geschichtsmythen um Varus und Widukind. Besonders die letzteren Einflüsse gaben ihrer späteren künstlerischen Entwicklung inhaltlich eine religiös-vaterländisch-mystisch-dramatische Ausrichtung. Dieser Stoff entfesselte ihre Phantasie gewaltig. Immer ging es der Ströver in ihrer Kunst um Mythos und Geschichte, um Symbolik für Kraft, Schönheit, seelische Größe, Hingabe für das als gut Erkannte und um die Offenbarung Gottes. Im Kapitel “Unheil” der “Goldenen Pforte” gelingt ihr 1918 auch literarisch die fast ekstatische Schilderung einer Katastrophe. Es handelt sich um ein Jahrhundertgewitter, dessen zerstörerische Wirkungen der Gutswirtschaft des Vaters schwersten Schaden zufügten. Man meint bei der Lektüre die apokalyptischen Reiter durch die Porta brausen zu sehen.
Ihre Vorliebe für die große Gebärde wie für das große Format gab Ida Ströver zu einer Zeit, als sie künstlerisch längst etabliert war, sogar wieder Gelegenheit, in ihrer alten Heimat tätig zu werden. In den frühen 30er-Jahren malte sie dort die von ihr selbst so benannte Heliand-Kirche der Anstalt Wittekindshof bei Bad Oeynhausen vollständig mit Themen des Neuen Testaments aus. Anstaltspfarrer Brünger und dessen Ehefrau hatten sie dazu gewinnen können, nachdem man über ihren “Heliand-Zyklus” – neben diesem zeichnete sie noch andere Zyklen wie die “Bremer Sturmtage” und die “Wiedertäufer” – auf sie aufmerksam geworden war. In Rückenlage malte Ströver, wie einst Michelangelo, Apsidenkuppeln aus. Besuchern im Wittekindshof wurde es auf dem Hochgerüst schwindlig, und sie verließen dieses “auf allen Vieren”. Doch geblieben ist auch davon nichts. Als Folge unzulänglicher Vorbearbeitung der Wände verfielen die Fresken von Anfang an. Schließlich wurden sie übermalt.
Doch dies kam nicht von ungefähr und fand sogar die Zustimmung des Landeskonservators. Denn trotz der religiösen Thematik lag deren Interpretation auch im Sinne des unheilvollen Zeitgeistes des Nationalsozialismus nahe: Heilsverkündung und Führerkult. In ihrem leidenschaftlichen Abwehrkampf gegen den vermeintlich aufziehenden “Bolschewismus” verkannte sie, zumindest anfangs, das Totalitäre und Zerstörerische des NS-Systems. Diese unselige ideologische Ausrichtung zeigte sich verschärft auch in anderen Arbeiten, vor allem in einem Zyklus, der den Aufstieg Hitlers verklärt. Es war auch Hitlers kunstgeneigte Entourage, bei der Ströver sich die politische und finanzielle Unterstützung für die von ihr angeregte und von den NS-Instanzen wie den Kirchenvertretern als “enge Verbindung von deutschem Volkstum und Christenglauben” zunächst interessiert aufgegriffene Ausmalung der Margaretenkapelle auf dem Wittekindsberg versprach. Nur der politischen Gemeinde Barkhausen war der ihr abverlangte Eigenbeitrag zu hoch. Nicht zuletzt deshalb blieb das Projekt zunächst in der Schwebe – bis der Regierungspräsident es im März 1937 unwiderruflich stoppte. Das Regime hatte nun andere Pläne mit dem Areal um die Wittekindsburg.
Erst in den letzten NS-Jahren mag Ida Ströver die abgrundtiefe Unmenschlichkeit und Unchristlichkeit des Regimes und dessen Führers erkannt haben. Umgekehrt passten ihre Arbeiten nicht recht in das Kunstverständnis der Nazis, waren zu religiös und zu expressiv und damit dem “Entartungs”-Verdacht ausgesetzt. Jedenfalls wurde es still um sie, ihre Bilder waren nicht mehr gefragt, und sie geriet sogar in wirtschaftliche Not. Bomben auf Berlin zerstörten den größten Teil ihres Werkes. Sie zog ins bayerische Murnau und malte nun die Alpen. Von dort lockte ihre ehemalige Berliner Kollegin Schröder-Krüger sie zurück nach Minden. Auch Pastor Wilhelm Westermann setzte sich für ihre Rückkehr ein. Im Sommer 1952 kehrte Ida Ströver nach Barkhausen zurück. Das war kurz vor ihrer großen Ausstellung, die Schröder-Krüger für sie vorbereitet hatte. Im Kreis-Altersheim Nammen hatte sie ihre letzte Wohnstätte. Sie starb am 2. Februar 1955 in Minden. Die Grabplatte auf dem Wedigensteiner Waldfriedhof zeigt eine Palette und erinnert an die “Kunstmalerin und Schriftstellerin” Ida C. Ströver. Dass sie dort begraben werden durfte, hatte sie sorgfältig durch einen Vertrag mit Gutsbesitzer Eduard Middelschulte vorbereitet. Ein Pferdegespann sollte den Leichenwagen ziehen. Der zum Friedhof hinauf führende kleine Waldweg trägt ihren Namen.