Das Häuschen im Walde

Fritz W. Franzmeyer

Das Häuschen im Walde

Die Behausung hatte etwas von einem Hexenhaus. Sie lag im Walde und beherbergte eine alte Frau, die mit Kindern nichts Gutes im Schilde führte.

Doch anders als im Märchen hatte die Frau einen bürgerlichen Namen und stammte aus dem Ort, und anders als Hänsel und Gretel waren die Kinder wohl auch selber schuld an dem schlechten Verhältnis zu ihr. Sie verfolgten Witthaus’ Juste, wann immer die mit Stock und Beutel auf Hamstertour war. Juste wehrte sich mit Drohgebärden und Schimpfen, und da sie oft unterwegs war, schimpfte sie unentwegt. Auch in ihrem Häuschen ließ man ihr keine Ruhe. Hans Arnsmeyer berichtete einst, wie er – es war noch vor dem Kriege – mit ein paar anderen Pimpfen im Winter auf ihr Dach gestiegen ist und den Schornstein mit einem steinbeschwerten Brett abgedeckt hat. Als daraufhin der Rauch aus Tür und Fensterritzen quoll, erschien Juste mit dem Stock vor der Tür, titulierte die Jungens mit kreischender Stimme unerschrocken als „verdammtes Hitlerpack“ und bedachte sie im übrigen mit wenig stubenreinen Sprüchen, die sie dem Götz von Berlichingen entlehnte. Dabei raffte sie ihre bunten Lumpenröcke und streckte den Kindern den in Rede stehenden Körperteil entgegen.
Niemand weiß mehr so recht, wann und zu welchem Zwecke das Hexenhäuschen gebaut wurde. Walter Rommelmann, ältestes wie dienstältestes Mitglied der Spielschar der Freilichtbühne, erinnerte sich, dass es schon stand, als die Bühne 1928 ihren Betrieb aufnahm. Landwirt Hans Arnsmeyer wusste noch, dass es dann der Bühne als Gerätehaus diente. Als gegen Ende des Zweiten Weltkriegs Rüstungsbetriebe im Wittekindsberg entstanden, wurde der Ort für Witthaus’ Juste ungemütlich. Sie zog zeitweilig in den Luftschutzstollen an der Kaiserstraße um. Doch den machten ihr die Anwohner streitig, zumindest bei Fliegeralarm. So verbrachte sie manche Nacht im Freien, eine Gewohnheit, die sie während der milden Jahreszeit auch nach dem Kriege beibehielt. Als der Barkhauser Fritz Krückemeier eines Morgens auf den Neuen Friedhof kam, stockte ihm der Atem, denn unter den Blumen und Kränzen eines frisch geschütteten Grabhügels regte es sich so unheimlich. Doch es war kein Untoter und auch kein Scheintoter, es war nur unsere Juste, die dort geschlafen und sich mit dem dichten Grün zugedeckt hatte.

Witthaus’ Juste wird sich gefreut haben, als der Krieg vorbei, der Stollen geräumt und ihre angestammte Wohnung wieder einladender geworden war. Sechs bis sieben Jahre brachte sie dort noch zu – zum Gaudi immer neu heranwachsender Tunichtgute. Doch dann griff die Obrigkeit ein. Das bundesdeutsche Leben, auch das dörfliche, schlug immer geordnetere Bahnen ein, und es war nur eine Frage der Zeit gewesen, bis jemand glauben musste, in Justes wohlverstandenem Eigeninteresse eingreifen zu sollen. So kam sie in ein Heim nach Gütersloh, und man verlor sie in Barkhausen aus den Augen. Ihr Häuschen aber wurde abgerissen.
Nicht lange blieb der Ort verwaist. Als 1954 die Freilichtbühne wieder eröffnet wurde, entstand an gleicher Stelle ein fester Verkaufsstand für den Pausenimbiss. Hier, bei Heinrich „Pille“ Franzmeier, traf sich, wenn die Ovationen verklungen und die Gesichter abgeschminkt waren, auch die Spielschar und entspannte sich bei Bier und Schnaps. Nach gelungener Aufführung steigerte dann der Nachhall der Theaterphantasie so manches Gespräch ins Ausschweifende und Groteske. Auch dieser Ausschank ist verschwunden. Mitte der siebziger Jahre wurde die Bühne verkleinert, der Imbissstand in einem Gebäuderiegel untergebracht, der den Theaterraum zum Eingang hin abschließt. Nichts ist an die Stelle getreten, was an den „genius loci“, den ehedem recht spukigen Geist dieses Ortes, erinnert. Deshalb soll er wenigstens mit diesen Zeilen wieder zu einem bisschen Leben erweckt werden.