Angelica Dörfler

Robert Kauffeld

„Princesse Pouppèe“
Angelica Dörfler, eine große kleine Künstlerin

Sie war etwas Besonderes unter den Persönlichkeiten, die einmal für Barkhausen von Bedeutung waren: Angelica Dörfler, eine kleinwüchsige Frau, die wohl jeder kannte, die man gern hatte, die besonders von den Kindern – manchmal größer als sie – geliebt wurde.

Angelica, nur etwa 90 cm groß, wohnte im Hause Portastraße 43, wo früher der Friseurmeister Noll seinen Salon führte. Sie war eine intelligente, gebildete Frau, eine weitgereiste Künstlerin, die sehr interessant aus ihrem Leben erzählen konnte. „Fräulein Dörfler“, wie sie genannt wurde, war zwar kleinwüchsig und hatte gewiss auch mit manchen Vorurteilen zu kämpfen, doch war sie in Barkhausen wegen ihrer völlig unkomplizierten, charmanten Art nie eine Außenseiterin. 

Wenn sie durch das Dorf ging, blieb man stehen und plauderte gern mit ihr. Die Kinder kamen angelaufen und hörten ihr gespannt zu. Natur und Tiere, davon konnte sie viel erzählen.

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Wenn man einmal mitkommen durfte in ihre Wohnung, war das ein besonderes Erlebnis. Zunächst beeindruckten natürlich die kleinen Möbel, doch eine Puppenstube war das nicht, denn hier wohnte und lebte ein ganz normaler, wenn auch etwas kleinerer Mensch. Hier wurden ebenso Mahlzeiten zubereitet wie Strümpfe gestopft, Briefe geschrieben wie Zeitungen gelesen. 

Aber da stand dann auch die Staffelei, auf der gerade das Bild einer schönen Landschaft entstand. Oder es konnten die sehr schönen Ergebnisse ihrer Seidenmalerei bewundert werden, daneben vielleicht auch feine Handarbeiten. Angelica war eine Künstlerin, die ihre Hobbies liebte, aber damit auch etwas Geld verdienen musste.

Und da saß man nun in ihrer Wohnung, war von ihren Geschichten gefesselt, bis plötzlich auf der Fensterbank des immer geöffneten Fensters ein Vogel erschien, eine kleine Blaumeise. Angelica hatte ihr schon einen Namen gegeben und begrüßte sie. Und der kleine Vogel kam in die Wohnung geflogen. Er blieb auch ganz zutraulich sitzen, als Angelica zu ihm ging und ihn fütterte. Darum war das Fenster immer geöffnet, denn auch Spatzen und Buchfinken kamen zu ihrer kleinen Freundin. Und Angelica erzählte von der kleinen Meise, die während der Brutzeit nur selten gekommen war, dann aber später ihren Nachwuchs ganz stolz mitgebracht und Angelica gezeigt hat.

Seit Angelica Dörfler 1987 verstorben ist, verwischten sich ihre Spuren immer mehr. Ist außer der Erinnerung noch etwas geblieben? Ich habe unsere kleine Freundin als früherer Nachbar oft erleben dürfen, habe ein kleines Ölbild von ihr geschenkt bekommen und auch die Meisen in ihrem Zimmer bewundert. Meine Bemühungen um die Vergangenheit waren erfolgreicher als ich erwartet hatte.
Angelica Dörfler wurde am 19.12.1892 in Zürich geboren. Ihre Eltern waren Künstler, die auf der Bühne standen und Lieder und Konzertstücke in verschiedenen Sprachen sangen. Wie ein Foto aus jenen Tagen zeigt, war Vater Fritz Balthasar von normaler Größe, während Mutter Elsbeth noch zwei Zentimeter kleiner war als ihre Tochter Angelica. Auf den Reisen der Eltern, die im Jahre 1896 bis nach Sibirien führten, war auch Klein-Angelica dabei. Während der langen Bahnreisen verbrachte sie die Nächte gewöhnlich im Gepäcknetz.

Als Nikolaus II in Petersburg zum Zaren gekrönt wurde, hatten die Dörflers ihre Auftritte bei den großen Volksfesten. Angelica sang Kinderlieder, auch in russischer Sprache, und begeisterte ihre Zuhörer. Sie brachten zur Erinnerung einen „Krönungsbecher“ mit, aus dem Wodka zu Ehren des Zaren getrunken wurde. Der Verbleib dieser interessanten Emaillearbeit mit den Insignien des Zaren und der Jahreszahl 1896 ist nicht mehr festzustellen. Angelica war immer stolz darauf gewesen.

Als Vater Fritz Balthasar Dörfler im Jahre 1905 verstarb, begann für seine Ehefrau Elsbeth und die gerade 13 Jahre alte Tochter eine schwere Zeit. Aber sie hatten vorher ein festes Zuhause gefunden, ein eigenes Haus in Sterkrade. Angelicas künstlerische Neigungen galten der Malerei, doch es hieß, Geld zu verdienen. Bei einem Gastspiel in Berlin hatte sie auf dem Xylophon eines anderen Künstlers einfach mal so „herumgeklinpert“ und war dann davon so fasziniert, dass sie intensiv übte und ihr Spiel im Laufe der Zeit so vervollkommnen konnte, dass sie schließlich in ganz Europa als Xylophon-Virtuosin bekannt wurde. Zahlreiche Programmhefte zeugen von ihren Auftritten und Zeugnisse bekannter Häuser belegen, dass sie als Künstlerin sehr geschätzt wurde. „…höchst lobend über ihre Leistungen“ und ähnliche Beurteilungen finden sich in den mehr als 20 vorliegenden handschriftlichen Zeugnissen ihrer Vertragshäuser, und ebenso zeigen zahlreiche Zeitungsberichte, wie sehr ihre musikalischen Darbietungen geschätzt wurden. Auch ein persönliches Empfehlungsschreiben des Lords of Ireland, auf dessen Farm sie vor einer Reihe besonders geladener Gäste aus dem englischen Adel spielte, ist erhalten geblieben.

Zwischen den vielen Gastspielen in der Schweiz, in Holland, Belgien und Frankreich, kam Angelica auch einmal nach Minden. Sie war von Willy Müller für das Theater-Varieté „Collosseum“ an der Hermannstraße vom 16 bis 30.4.1922 engagiert worden. Und das Zeugnis: „… ihre Leistungen fanden sowohl beim Publikum als auch bei der Presse vollste Anerkennung. Ich hatte bis zum letzten Tage ihres Auftretens ein ausverkauftes Haus…“

Große Erfolge auch in München. Nicht nur die Besucher schlossen Angelica in ihr Herz. Nach gemeinsamen Auftritten verband sie auch eine enge Freundschaft mit Karl Valentin.
Dann ein Blumenkorso in Paris. Der Manager vom „Nouveau Cirque“ suchte eine besondere Attraktion, und das war Blumenprinzessin Angelica mit ihrem Ponygespann. Nach dem Jubel in den Straßen verlieh ihr die Jury den ersten Preis.

Viele Erfolge verschafften der Künstlerin schließlich auch wirtschaftliche Unabhängigkeit. Jetzt fand sie endlich Zeit für ihr Hobby. Sie studierte Malerei in der städtischen Zeichenschule in Berlin am Tempelhofer Ufer bei dem sehr bekannten Professor Pankok. Und tatsächlich ist davon ein Foto erhalten geblieben. „Pankok ist erstaunt über die große Vitalität der kleinen Frau und ihre Besessenheit, zu malen“, berichtete die Zeitung.

Von wem oder wo kann man noch etwas über Angelica Dörfler erfahren? Etwa im Internet? Vom Fehlschlag überzeugt füttere ich „Google“, die Suchmaschine, mit ein paar Begriffen. Und dann staune ich. Da hat im Jahre 1923 der Berliner Journalist Adolf Stein unter dem Namen „Rumpelstilzchen“ ein wöchentliches Feuilleton über die Berliner Kulturszene herausgegeben. Das wurde später jährlich in Buchform gedruckt und jetzt teilweise im Internet veröffentlicht. Rumpelstilzchen beschreibt ausführlich seine Begegnungen mit Angelica Dörfler, schreibt über die Musik-Künstlerin und die Malerin, berichtet aber insbesondere über die menschliche Seite der „kleinen Leute“, zu der sich Angelica zählte. Sie selbst unterscheidet sich von den Liliputanern, bei denen alle Körperteile in gleicher Weise kleiner geblieben sind. Angelica hatte einen normal großen Kopf und Körper, nur Arme und Beine waren kleiner.

Irgendwann lockte die große weite Welt. Es ging 1925 nach Amerika. Auftritte in zahlreichen Staaten folgten in den nächsten drei Jahren. Mutter Elsbeth war immer dabei, trat aber selbst nicht mehr auf. Zwischendurch besuchte Angelica die Kunstschule „Arts and Crafts-Club“ in New Orleans. Aus dieser Zeit sind noch ein umfangreicher amerikanischer Zeitungsbericht über Angelica und zwei Abdrucke ihrer Bilder erhalten, die das Vieux Carre in New Orleans darstellen.
Sie interessierte sich für Land und Leute, schrieb Berichte darüber, die in einer Beilage des Berliner „Mittag“ veröffentlicht wurden. So zum Beispiel über ihre Fahrt mit den Perlenfischern auf dem Mississippi.

Vielleicht war es das Heimweh, das Mutter und Tochter wieder zurück nach Deutschland trieb. Hier ging das ruhelose Leben weiter, von einem Auftritt zum anderen. Zwischendurch widmete sich Angelica aber auch mal wieder ihrem Hobby und studierte Japankunst in München.

 

Der Besitz eines Autos war vor dem letzten Kriege schon etwas Besonderes. Wenn eine Frau ausstieg, war das recht ungewöhnlich, wenn es dann aber Angelica Dörfler war, staunte man nur. Sie hatte es mit ihrer Hartnäckigkeit durchsetzen können, die Fahrprüfung zu bestehen. Dabei war es nicht leicht gewesen, jemanden zu finden, der die nötigen Umbauten an ihrem Hanomag ausführte. Jetzt konnte sie durch viele Länder Europas fahren – und alles ohne Unfall.

Dann begann der Krieg. Angelica und ihre Mutter waren wieder einmal unterwegs, als in Barkhausen, jetzt Porta Westfalica, der Sprit ausging. Es gab keine Bezugscheine für Benzin. Märchenhaft, wie das Leben der Dörflers bisher verlaufen war, so führte dieses Ereignis dazu, dass Angelica und Elsbeth Dörfler bis zu ihrem Lebensende hier blieben.

Als der Krieg zu Ende war, konnte Angelica noch oft als Dolmetscherin bei Verhandlungen mit den Amerikanern mit Geschick und Hartnäckigkeit manche Vergünstigungen für ihre Mitbürger erreichen. „She speaks our language“, sagte einmal ein Soldat aus den Südstaaten, der diesen Dialekt erkannte, den sich Angelica in dessen Heimat angewöhnt hatte. Und dann musste sie aus ihrem Leben erzählen – und hatte wieder einen Freund gefunden.
Angelica Dörfler war eine beliebte Mitbürgerin in Barkhausen geworden und nahm interessiert am Dorfleben teil. Manchmal wanderte sie zu Fuß auf den Portaberg, ging auch in die Kirche. Und wenn sie „nen Halben“ im Lindenhof bei Karl Martens bestellte, bekam sie wie üblich ihren „Öfterling“, ein recht kleines Glas Bier, das man eben öfter trinken konnte.

Unauffällig und bescheiden wie sie gekommen war, so hat sie uns auch wieder verlassen. Angelica Dörfler ist am 30.10.1987 in ihrer Wohnung verstorben und wurde auf dem Alten Friedhof an der Pfarrstraße beigesetzt. Man erinnert sich gern an diese außergewöhnliche Frau.